Wie erlebt ein Kind die Drogenabhängigkeit der Mutter? Der Film „Platzspitzbaby“ ist eine Rückblende ins Zürich der 90er-Jahre – in eine Zeit, in der Behörden überfordert waren und es an Hilfsangeboten fehlte.

Es ist viel los im Platzspitz, dem berühmten Park im Herzen Zürichs. Doch Mia bahnt sich ihren Weg durch die Menschenmenge, ohne den Blick zu heben. Aus den Kopfhörern ihres Walkmans klingt laut ein Gute-Laune-Song der Beach Boys: „I Wanna Go Home“.

Der Trubel, den Mia zu ignorieren versucht, hat Zürich in den 1980er-Jahren weit über Europa hinaus berühmt gemacht. Nirgendwo sonst gibt es eine solch große offene Drogenszene. An manchen Tagen bevölkern über Tausend drogenabhängige Menschen den Park, dort wird gedealt und konsumiert, für viele ist er auch Wohnort.

Mia läuft durch den Zürcher Platzspitz (© Alpenrepublik)

Erst in den 1990er-Jahren, als die Lage zu eskalieren droht, reagieren die Behörden mit rigiden Maßnahmen. Die Szene wird zunächst vom Platzspitz verdrängt, und 1995 werden alle auswärtigen Drogengebraucher*innen – viele kamen aus Gemeinden außerhalb Zürichs – in ihre Herkunftsorte zurückverfrachtet. Und die elfjährige Mia (Luna Mwezi) landet mit ihrer Mutter Sandrine (Sarah Spale) in einer verschlafenen Kleinstadt im Zürcher Oberland. An diesem Zeitpunkt setzt nun die Handlung von „Platzspitzbaby“ ein.

Erst ein Bestseller, dann eine der erfolgreichsten Kinoproduktionen der Schweiz

Der Spielfilm von Regisseur Pierre Monnard war 2020 eine der erfolgreichsten Kinoproduktionen der Schweiz. Grundlage war wiederum ein Schweizer Bestseller: die 2015 erschienene Lebensgeschichte von Michelle Halbheer, die als Tochter einer drogenabhängigen Mutter aufgewachsen ist. Buch wie Film erzählen unbeschönigt von einer Kindheit der Überforderung – der Mutter, der Tochter und der Behörden.

Ein Kreislauf aus Hochs und Tiefs

Anfangs scheint der Umzug in die Provinz tatsächlich zu einem heilsamen Neuanfang zu werden. Mia sorgt dafür, dass Sandrine regelmäßig ihre Medikamente nimmt und ist stolz auf das, was Sandrine bereits geschafft hat.

Mit Magnetziffern hat Mia auf der Kühlschranktür die „34“ gebildet. So viele Tage ist ihre Mutter bereits clean. Alles scheint auf einem guten Weg. Doch die frisch geschiedene Sandrine ist als alleinerziehende Mutter überfordert, und als ein alter Freund von ihr in der Wohnung auftaucht, ahnt Mia bereits, was kommen wird.

Bald schon steht der Zähler auf dem Kühlschrank wieder auf null, und es beginnt ein Kreislauf aus Entzugsversuchen und neuerlichen Abstürzen, aus Hochs und Tiefs. Momente großen gemeinsamen Glücks, inniger Mutterliebe und voller Zärtlichkeit wechseln mit solchen der Enttäuschung und hilflosen Verzweiflung. Wenn Sandrine unter Drogeneinfluss steht oder den Suchtdruck nicht mehr aushält, lässt sie ihre Tochter schnell auch mal im Stich oder schickt sie sogar los, um Stoff zu besorgen.

Mia hält zu ihrer Mutter

Regisseur Pierre Monnard hat die Buchvorlage an entscheidenden Stellen um weitere Perspektiven erweitert. Wenn auch nur am Rande, so werden auch Erfahrungen anderer Kinder drogenabhängiger Eltern einbezogen. Erzählt aber wird der Film fast durchgängig aus Mias Perspektive. Und dieser Blick ist alles andere als eindimensional, voreingenommen oder vereinfachend. Im Gegenteil, auch dank der beiden großartigen Darstellerinnen wird das Dilemma deutlich, in dem sich Mutter und Tochter befinden. Mia weiß, dass ihr dieses Leben zu viel abfordert. Sie sieht und sie erlebt Dinge, die einem Kind nicht guttun.

Mutter Sandrine und Tochter Mia (© Alpenrepublik)

Aber für die Zuschauer*innen wird in vielen kleinen Momenten auch deutlich, warum Mia nicht einfach zu ihrem Vater zieht, sondern zu ihrer Mutter hält, die sich liebevoll um das Mädchen kümmert – zumindest so lange es ihr möglich ist. Und warum sie alles daransetzt, dass ihre Mutter das Sorgerecht nicht verliert.

Es ist nicht das einzige Motiv, das so ähnlich auch in Adrian Goigners Film „Die beste aller Welten“ (2017) auftaucht. Goigner hatte darin seine Kindheit mit seiner drogenabhängigen Mutter verarbeitet. Und auch bei ihm eskalieren die Ereignisse, bevor es zu grundlegenden Entscheidungen und Veränderungen kommt.

„Platzspitzbaby“: auch ein Coming-of-Age-Film

„Platzspitzbaby“ ist im Abspann „allen Kindern gewidmet, die vergessen gingen“.

Vergessen wurden sie, beklagt Michelle Halbheer in ihrer Autobiografie, von den Behörden, die zumal in den kleinen Städten mit dem Aufbau von Substitutionsprogrammen und der psychosozialen Betreuung der Suchtpatient*innen schlicht überfordert waren.

Allen Kindern gewidmet, die vergessen gingen

In Deutschland gab es 2006 geschätzt über 40.000 Kinder von opiatabhängigen Eltern, die Hälfe davon lebte mit ihren Herkunftsfamilien. „Platzspitzbaby“ zeigt einerseits sehr berührend, wie wichtig Mia als Stütze für ihre Mutter Sandrine ist, um Lebensmut zu bewahren. Aber nicht minder unverstellt und rau zeigt der Film auch, wie schnell die Überforderung in Verwahrlosung und Gefährdung des Kindeswohls abgleiten kann – wenn ein stützendes Hilfesystem und beispielsweise ambulante Angebote fehlen wie in der Schweiz der 90er-Jahre.

Wenn die Situation unerträglich wird, flieht Mia anfangs in Fantasien und Tagträume. Doch dann bricht sie aus der heimischen Zweisamkeit mit ihrer Mutter aus – und findet eine Clique. Eine Wahlfamilie aus Kindern, die es zu Hause ebenfalls nicht immer leicht haben. Und souverän und feinfühlig verlagert Pierre Monnard den Schwerpunkt von „Platzspitzbaby“ weg vom Drama über eine suchtdominerte Kindheit hin zu einem Coming-of-Age-Film, in dem Mia eigene Erfahrungen machen und sich zu einer souveränen Persönlichkeit entwickeln kann.

 „Platzspitzbaby“. Schweiz 2020. Regie Pierre Monnard, mit Luna Mwezi, Sarah Spale, Anouk Petri, Jerry Hoffmann. 100 Minuten, Kinostart 18.11.2021

Webseite zum Film, unter anderem mit Trailer und Begleitmaterial für den Einsatz im Schulunterricht: platzspitzbaby.ch/de/

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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