Trauer und Verlust

„Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“

Von Axel Schock
Bild: © Greg Wass
Schlimm genug, dass June den Aidstod ihres geliebten Onkels verkraften muss. Warum aber hat sie nie etwas von seinem Lebensgefährten erfahren? In ihrem im New York des Jahres 1987 angesiedelten Roman Sag den Wölfen, ich bin zu Hause erzählt Carol Rifka Brunt aus der Perspektive einer Jugendlichen herzerwärmend von Abschied und Trauer, verschiedenen Formen der Liebe, Homophobie und Erwachsenwerden.

Der Tod ihres Onkels kommt keineswegs unerwartet. Junes Mutter hat sie und ihre ältere Schwester Greta darauf vorbereitet, ohne allerdings den Namen der Krankheit auszusprechen.

Doch als es dann passiert, bricht für June eine Welt zusammen. Finn war mehr als nur ein Onkel.

Für die 14-Jährige war er der einzige Mensch auf der Welt, der sie so nahm, wie sie ist.

Junes Onkel Finn war der einzige Mensch, der sie verstand

Der sich nicht über ihren Mittelalter-Fimmel lustig machte, der ihr die klassische Musik nahebrachte, sie nach ihren Lieblingsbüchern fragte.

Der sie ernst nahm und nicht als Kind, sondern als ebenbürtige Gesprächspartnerin behandelte.

Nun also ist Finn, der berühmte Maler, der zuletzt an einem Doppelporträt der beiden Nichten arbeitete, in seinem New Yorker Apartment an Aids gestorben – und nichts ist mehr wie zuvor.

Sag den Wölfen, ich bin zu Hause beschreibt das New York der Aidskrise

Wie viel in ihrem Debütroman tatsächlich autobiografisch fundiert ist, dazu hat sich die US-Amerikanerin Carol Rifka Brunt bislang nur dürftig geäußert.

Doch da die 1970 geborene Autorin die Atmosphäre im New York der Mittachtziger-Jahre mit den durch die Aids-Epidemie in der breiten Bevölkerung ausgelösten Ängsten, Vorurteilen und Unsicherheiten höchst treffend einfängt, kann man wohl vermuten, dass Brunt sehr gut kennt, worüber sie hier schreibt.

Sag den Wölfen, ich bin zu Hause ist dennoch nicht dokumentarisch.

Die Sprache, die kurzen, lebensnahen Dialoge und nicht zuletzt die Emotionalität machen das Buch für Jugendliche gut lesbar, vermögen aber auch Erwachsene zu rühren und zu packen.

Als Brunts Roman 2012 in den USA erschien, landete es folgerichtig auf diversen Kritiker- und Bestsellerlisten. Mittlerweile ist es in 20 Sprachen übersetzt, und auch eine Verfilmung soll in Vorbereitung sein.

Bittersüßer Schmöker für alle Altersklassen

Was aber macht den bittersüßen Schmöker zum Pageturner für alle Altersklassen? Und wie schafft es Brunt, dass man – wenn man sich darauf einlässt – am Ende mindestens so sehr mit den Tränen kämpft wie bei David Levithans „Two Boys Kissing“, ohne dass man das Gefühl hat, plumpem Kitsch auf den Leim gegangen zu sein?

Die Frage zieht gleich eine andere nach sich, nämlich nach dem zentralen Thema dieses Romans. Und hier werden die Leser_innen wahrscheinlich sehr unterschiedliche Antworten geben.

Geht es ihr erster Linie um die unterschiedlichen Formen, über den Tod eines geliebten Menschen zu trauern?

Um (Wahl-)Familien und die Formen der Liebe – von Mann zu Mann, zwischen Heterosexuellen, einer Mutter zu ihrem Kind oder einer Jugendlichen zu ihrem verehrten Onkel?

Geht es um die zwischenmenschlichen Verhältnisse und die Frage, wie einst so eng miteinander verbundene Schwestern sich mit einem Male so entfremden können?

Was das zentrale Thema ist, werden verschiedene Leser_innen verschieden beantworten

Oder geht es in erster Linie um die offene und versteckte Homophobie, die Junes Mutter vielleicht nicht einmal bewusst ist?

Sie sorgt dafür, dass auf der Beerdigung ihres Bruders Finn ein Mann explizit ausgeladen ist, der sich nun verstohlen vor der Trauerhalle herumdrückt.

Für Junes Mutter ist dies der Mörder von Finn. Dass es sein langjähriger Lebensgefährte ist, dessen Existenz vor den Kindern verheimlicht wurde und dem sie vorwirft, Finn mit HIV infiziert zu haben, all das erfährt June erst nach und nach.

Schuldzuweisungen, Homophobie und Infektionsangst

Dass ihr Onkel diesen Menschen vor ihr verborgen hat, sieht June als Vertrauensbruch, und doch freundet sie sich mit diesem verhärmten, ebenfalls erkrankten Mann an. Denn sie beide verbindet die Liebe zu und die Trauer um den gleichen Menschen.

Carol Rikfa Brunt hat keinen klassischen Aidsroman geschrieben, sondern nutzt vielmehr die Krankheit und deren Sonderstatus in den Mittachtziger-Jahren, um auf auf 440 Seiten verschiedenste Konstellationen und Aspekte von Toleranz, Neid und Missgunst, von Mitgefühl und Verständnis zu umkreisen, ohne dabei allzu pädagogisch zu werden.

So liebenswürdig ihre Figuren sind, so gebrochen sind sie auch. Diese Ehrlichkeit verleiht ihren Charakteren eine Tiefe, der den Roman vor Kitsch bewahrt und immer wieder überraschende Wendungen ermöglicht.

Wie uneigennützig ist die entstehende Freundschaft zwischen den beiden Trauernden Junes und Toby?

Und wie gelassen und frei von Furcht kann June tatsächlich mit der Aidserkrankung des Onkels umgehen?

Als Greta zur Weihnachtszeit einen Mistelzweig über seinen und Junes Kopf hält, erkennt Finn diese Provokation und küsst June lediglich auf den Scheitel. Dennoch versetzt diese Berührung June in Panik, sodass sie sich gleich mehrfach die Haare wäscht.

Tragik, die dennoch beglückend wirkt

Als in der Schule durch einen Nachruf bekannt wird, dass ihr Onkel nicht nur ein berühmter Maler, sondern an Aids verstorben ist, erfährt June plötzlich eine fragwürdige Aufmerksamkeit. Jemanden mit Aids zu kennen, lässt sie cool und besonders erscheinen – und beschert ihr, die sonst immer übersehen wurde und ein Mauerblümchen-Dasein führte, besondere Zuwendung.

„Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ – so viel sei verraten – hat ein trauriges Ende (Taschentuchalarm!). Und doch führt die Autorin hier alle Fäden so stringent zusammen, sind die Figuren durch die zurückliegenden Ereignisse und moralischen Konflikte so gereift und gewachsen, dass all diese Tragik dennoch beglückend wirkt.

Carol Rifka Brunt: „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“. Roman. Deutsch von Frauke Brodd. Eisele Verlag, 446 Seiten, als Hardcover 22 Euro, als Taschenbuch 12 Euro, auch als E-Book erhältlich.

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