Der Anfang vom Ende von Aids
Die ehemalige Bundestagspräsidentin und Gesundheitsministerin Prof. Dr. Rita Süssmuth hatte gerade das Podium erklommen, da war der Countdown gewissermaßen offiziell gestartet.
Die Webseite zur Kampagne „Kein AIDS für alle!” wurde online geschaltet und im Minutentakt machte die Nachricht in den Onlineportalen der Tageszeitungen wie in den Nachrichtensendungen von Radio und Fernsehen die Runde: Bereits 2020 soll es in Deutschland keine neuen Fälle von Aids mehr geben. In einer fiktiven „Tagesschau“-Ausgabe hatte man zum Start des Auftaktsymposiums schon mal den historischen Erfolg verkündet. Für einen Moment konnte man sich am Tagungsort, dem Berliner Spreespeicher, wie in einer Zeitspirale fühlen.
Prof. Dr. Rita Süssmuth: „Zusammen können wir eine Menge schaffen“
Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit fanden gewissermaßen zusammen. Prof. Dr. Rita Süssmuth, die als Person wie keine andere mit den Anfängen von Aids in Deutschland verbunden ist, warf in ihrer Eröffnungsrede noch einmal einen Blick zurück und erzählte von ihrem harten Kampf in der damaligen Regierungskoalition aus Union und FDP für ihr Konzept der Aidspolitik: Aufklärung und Prävention statt Diskriminierung und Ausgrenzung.
Dass sie in der damals von Angst und Hysterie geprägten Wahrnehmung der Krankheit auch kritische Ministerkolleg_innen und nicht zuletzt Bundeskanzler Helmut Kohl überzeugen konnte, sei nur durch die breite Unterstützung und den massiven Widerstand vieler möglich gewesen. „Wir können etwas verändern, wenn wir uns zusammentun“, fasste sie ihre Erfahrungen aus diesen bewegten Monaten zusammen.
„Ich habe damals viel von den Aidshilfen gelernt“
„Ich habe damals eine Menge von den Aidshilfen gelernt“, betonte Süssmuth, seit 2016 Ehrenmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe, – nämlich humanitär zu handeln – und schlug dabei den Bogen zu Angela Merkels Entscheidung am Höhepunkt des Flüchtlingsgeschehens im Jahr 2015: „Wir schaffen das“, dieser vielzitierte Satz der Bundeskanzlerin hätte auch leitmotivisch über dem Kampf gegen HIV/Aids stehen können.
„Wenn wir es uns selbst, wenn wir es den Ehrenamtlichen nicht zutrauen, dann geben wir uns auf“, sagte Süssmuth weiter. „Wir haben erlebt, wie stark selbst vom Tode gezeichnete Menschen sein können und sind. Zusammen können wir eine Menge schaffen, auch heute.“
Zu schaffen gilt es zum Beispiel, dass das Grundrecht auf Gesundheit für alle Menschen gültig ist. Egal, woher sie kommen. Für Rita Süssmuth bedeutet dies konkret: Die anonyme Gesundheitskarte für Menschen ohne Papiere sollte bundesweit selbstverständlich sein, bisher gibt es sie nur in Vorreiter-Ländern wie den Stadtstaaten Berlin und Bremen.
Allein sei das freilich nicht zu machen: „Wir brauchen Vernetzung.“ Nur so sei es beispielsweise gelungen, dass nach einem 25 Jahre andauernden Kampf Frauen seit 1997 endlich per Gesetz vor Vergewaltigungen in der Ehe geschützt sind. Dass bei der Kampagne „Kein AIDS für alle!“ von Anfang an viele Akteur_innen mit im Boot sind, ist für Süssmuth daher ein gutes und wichtiges Zeichen.
Das Ende von Aids: ein ambitioniertes, aber erreichbares Ziel
Und wer da von Anfang an im Koordininierungssgremium mit dabei war, das ist laut Ines Perea, der zuständigen Referatsleiterin im Bundesgesundheitsministerium, einmalig: Vertreter_innen der Politik, Ärzteschaft und der Verwaltung, zudem von Ärztekammern, privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen, des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der Community bis hin zu JES, dem bundesweiten Netzwerk im Bereich der Drogenselbsthilfe, und dem Bundesverband sexueller und erotischer Dienstleistungen.
Mit dem Kampagnenslogan „Kein AIDS für alle!“ habe sie sich zunächst sehr schwergetan, gab Ines Perea offen zu. Doch das habe sich dann schnell geändert, als sie das Konzept genauer kennengelernt und verstanden habe, was alles in diesem Satz stecke. „Die Zielsetzung ist ambitioniert“, sagte sie. „Für mich ist das aber noch einmal mehr ein Ansporn.“
Anders als mit „BIS 2030“, dem Strategiepapier der Bundesregierung zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C sowie anderer sexuell übertragbarer Infektionen, das auf 2030 hin ausgerichtet ist, werde mit der DAH-Kampagne ein zeitlich näheres und damit besser vorstellbares Ziel gesetzt. „Das macht es auch einfacher, Menschen zu mobilisieren, um sich dafür einzusetzen – für etwas, das schon bald erreichbar ist und bei dem es sich daher in den jeweiligen beruflichen Kontexten umso mehr lohnt, daran mitzuwirken.“ Und den rund 180 ehren- wie hauptamtlichen Mitarbeiter_innen aus DAH-Mitgliedsorganisationen sowie Ärzt_innen und Communityvertreter_innen, die zur Auftaktveranstaltung gekommen waren, bot Ines Perea auch gleich unbürokratische Hilfe an: „Wenn es irgendwo hakt, kann man sich gern an mich wenden.“
Frühe Diagnose und frühe Therapie – und dabei niemanden zurücklassen
Minister Hermann Gröhe konnte zwar nicht persönlich zum Auftaktsymposium kommen, mittels Videobotschaft hatte er aber ebenfalls seine Unterstützung bei der Umsetzung der Kampagne zugesagt. Und auch UNAIDS-Direktor Michel Sidibé schickte auf diesem Wege einen Gruß und zeigte sich zuversichtlich: „Ich weiß, Sie können Aids in Deutschland bis 2020 beenden.“ Entscheidend dabei sei, so Sidibé weiter, dass die bisher vernachlässigten Bevölkerungsgruppen erreicht werden, denn noch wüssten zu viele Menschen nicht über ihren HIV-Status Bescheid oder ließen sich viele zu spät auf HIV testen.
„Ich weiß, Sie können Aids in Deutschland bis 2020 beenden“
Wie auch diese Menschen erreicht werden sollen, erläutere DAH-Geschäftsführerin Silke Klumb in einem kurzen Abriss der geplanten Projekte. Darunter sind Testaktionen für schwule und bisexuelle Männer sowie für Menschen in Haft und Kondom-Aktionen als Teil von Beratungsangeboten für Migrant_innen. Drogen konsumierende Menschen zum Beispiel sollen durch das Pilotprojekt „Hund und Herrchen“ besser angesprochen werden, in dem zusätzlich zu HIV-Test und -Beratung auch ein Gesundheitscheck durch Veterinärmediziner_innen für die Vierbeiner angeboten wird.
Je früher Menschen durch einen HIV-Test von ihrer Infektion erfahren, umso frühzeitiger kann auch eine Therapie begonnen und damit der Ausbruch von Aids verhindert werden. Maik und Regina, den beiden Gesichtern der Kampagne „Kein AIDS für alle!”, wären durch einen frühen HIV-Test jahrelange schwerste körperliche Probleme erspart geblieben.
Maik hatte nach einer Aids-typischen Lungenentzündung und einer Pilzinfektion in Mund und Rachen bereits 30 Kilo Körpergewicht verloren. Erst dann hatte man ihn auf das Virus untersucht.
„Es hätte mir geholfen, wenn mir ein Arzt zu einem HIV-Test geraten hätte“
„Ich hatte geahnt, dass ich positiv sein könnte“, erzählte er vor den Medienvertreter_innen bei der äußerst gut besuchten Pressekonferenz, doch es habe ihm der Mut gefehlt. Die Angst als HIV-positiv abgestempelt zu werden, sei einfach zu groß gewesen. „Es hätte mir geholfen, wenn mir ein Arzt konkret zu einem HIV-Test geraten hätte.“
Mehrere Gürtelrosen-Erkrankungen, Hirnhautentzündung, chronischer Durchfall – auch die gesundheitlichen Probleme der Frührentnerin Regina waren symptomatisch für eine unbehandelte HIV-Infektion. Dennoch kam keine_r ihrer Ärzt_innen auf die Idee, ihr einen HIV-Test anzubieten. Von ihrer Infektion erfuhr sie erst durch eine Blutspende.
Auch die Ärzt_innen sind gefragt
Es gibt viele verschiedene Gründe, wie es zu diesen tragischen, weil lebensgefährlichen Spätdiagnosen kommen kann. Angst sei einer davon, so Björn Beck vom DAH-Vorstand – Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung. Und letztere Faktoren wiederum speisten sich aus falschen, weil veralteten Bildern von HIV.
Doch auch Ärzt_innen scheuten die Auseinandersetzung mit dem Thema und müssten sich erst zur Beschäftigung damit überwinden berichtete HIV-Spezialist Dr. Keikawus Arastéh vom Auguste-Viktoria-Klinikum Berlin. Dass es gerade unter Frauen eine besonders auffällig hohe Menge an Spätdiagnosen gibt, ist für Dr. Annette Haberl nicht überraschend. „Das Thema Sex und Frauen hat es schwer in der ärztlichen Praxis“, sagte die Leiterin des Bereichs HIV und Frauen im HIVCENTER Frankfurt/Main.
Die HIV-Testrate bei Schwangeren sei mit rund 90 Prozent recht gut. Doch sobald die Familienplanung abgeschlossen sei, gerieten sexuell übertragbare Krankheiten zu oft aus dem Blick. Keikawus Arastéh bestätigte das. Selbst in Berlin würden viele Frauen mit Gebärmutterhalskrebs in den Kliniken behandelt, ohne dass eine HIV-Infektion in Betracht gezogen werde – obwohl dieses spezielle Karzinom bei Frauen zu den wichtigen Aids-Indikatorerkrankungen gehöre. „Stattdessen werden diese Frauen wieder in die Ahnungslosigkeit entlassen.“
Weiterbildungsangebote für Beschäftige im Gesundheitssystem wie das DAH-Programm „Let’s talk about Sex“ seien deshalb ein wichtiges Projekt, so Annette Haberl weiter. Sich auf sexuell übertragbare Krankheiten testen zu lassen, müsse laut Björn Beck weniger schambehaftet sein und selbstverständlich werden. Unvoreingenommen und ebenso selbstverständlich über Sexualität zu sprechen, sei dabei eine wesentliche Grundvoraussetzung.
Standing Ovations für das neue Ehrenmitglied Prof. Dr. Martin Dannecker
Einem, der das Nachdenken und Sprechen über Sexualität im Allgemeinen und über Homosexualität, HIV und Prävention im Besonderen zu seinem Lebensthema gemacht hat, wurde passenderweise im Rahmen des Symposiums denn auch die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen AIDS-Hilfe verliehen: dem Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Martin Dannecker.
Die Besucher_innen des Symposiums dankten Martin Dannecker mit stehenden Ovationen, und die ghanaischen Sängerin Wiyaala sorgte dafür, dass aus der Veranstaltung sogar eine kleine spontane Tanzparty wurde. Zu feiern gab es schließlich nicht nur ein neues Ehrenmitglied, sondern auch den Beginn eines besonders wichtigen, weil höchstwahrscheinlich letzten Kapitels in der Geschichte von Aids in Deutschland.
Alle Fotos in diesem Beitrag von Johannes Berger
Weiterführende Links und Beiträge:
Website zur Kampagne „Kein AIDS für alle!“ mit Hintergrundinformationen zu den Zielen und Projekten sowie Interviews mit Regina und Maik
Website zu „Let’s talk about Sex – HIV/STI-Prävention und Beratung in der ärztlichen Praxis”
„Ich habe nie daran gedacht, dass es HIV sein könnte“ – Beitrag zu HIV-Spätdiagnosen bei Frauen auf magazin.hiv
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