Ukraine

„Unter Besatzung lernst du, dich unsichtbar zu machen”

Von Inga Pylypchuk
LGBTIQ* in der Ukraine: Soldat in ukrainischer Uniform Blick in die Kamera
Wolodymyr Weselowskyj (Foto privat)

Der Überfall Russlands hat die Situation für LGBTIQ* in der Ukraine auf ganz verschiedene Weise verändert. Einige von ihnen kämpfen in der Armee, während trans Personen auf die Anerkennung ihres Geschlechts warten und queerfeindliche Angriffe zunehmen. In den besetzten Gebieten werden Queers verfolgt und es fehlt an HIV-Versorgung. Doch Community-Projekte bieten praktische Hilfe und machen Mut.

Queer in der Armee

Wolodymyr Weselowskyj ist einer von vielen schwulen Männern in der ukrainischen Armee, aber einer der wenigen, die offen über ihre sexuelle Orientierung sprechen. Der 28-jährige Unteroffizier stammt aus Kamjanez-Podilskyj im Westen der Ukraine und verteidigt sein Land seit fast sieben Jahren.

Schon vor der russischen Vollinvasion 2022 hatte sich Weselowskyj freiwillig den ukrainischen Streitkräften angeschlossen. Russland hatte 2014 die Krim annektiert und einen Krieg im Osten der Ukraine begonnen. 2018 trat er der Nationalgarde bei, inspiriert von seiner jüngeren Schwester, die bereits ein Jahr zuvor in die Armee eingetreten war. Ende 2020 wurde er demobilisiert, meldete sich jedoch 2022 erneut freiwillig: „Ich habe keine Sekunde überlegt. Natürlich musste ich zurück an die Front, als Russland den Großangriff startete.“

2022 wurde er schwer verwundet. Seine gesamte rechte Körperhälfte war betroffen, vom Lungenflügel über die Leber und die Niere bis hinunter über das Knie zum Fuß. Er verbrachte drei Monate in der Reha, dann kehrte er zum Dienst zurück.  Diesmal nicht in einer Kampfeinheit, sondern in der Leitungsabteilung einer Brigade. Aktuell arbeitet er im Monitoring-Bereich.

Zu wissen, dass ich nicht alleine bin, dass ich jederzeit juristische oder psychologische Hilfe bekommen kann, das hilft sehr.

Wolodymyr Weselowskyj

Seine Kameraden nennen ihn „Gioconda“, nach dem italienischen Namen der berühmten „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci. Bevor er zur Armee kam, hatte Weselowskyj eine Ausbildung zum Maler und Restaurator absolviert. Ein Kamerade gab ihm den Spitznamen, weil er auch an der Front malte. Und weil er ihn an einen gleichnamigen Protagonisten aus einem populären Kriegsfilm aus den Nullerjahren erinnerte: „Die neunte Kompanie”.

Fortschritte und Herausforderungen für LGBTIQ* in der Ukraine

Olena Shevchenko, Leiterin der ukrainischen LGBTIQ*-Organisation „Insight“, sieht eine gestiegene Sichtbarkeit der Community in den letzten Jahren, auch wenn dies auf tragische Umstände zurückzuführen ist. „Dadurch, dass Menschen aus unserer Community an die Front gegangen sind, ist die Gesellschaft mehr mit den Themen Gleichheit und Gerechtigkeit konfrontiert. Es geht um konkrete Rechte: bei der Suche nach Vermissten, bei der Pflege von Verletzten und bei Entschädigungen für Familien von Gefallenen. Diese Diskussionen haben dann auch die Menschen erreicht, die früher sich nicht so viele Gedanken darüber gemacht haben“, sagt Shevchenko.

Olena Shevchenko (Foto privat)

„Insight“ realisiert seit 2008 LGBTIQ*-Projekte in Kyjiw sowie in anderen Regionen der Ukraine. Eine Umfrage des Kyjiwer Instituts für Soziologie zeigt einen eindeutigen Wandel: Der Anteil der Menschen mit negativer Einstellung gegenüber LGBTIQ+ sank von 60,4 % (2016) auf 34 % (2023). Gleichzeitig stieg der Anteil von Menschen mit positiver Einstellung von 3,3 % auf 15,5 %. 45 %  der Befragten gaben an, neutral eingestellt zu sein, ein Anstieg vom 14,3 % seit 2016.

Der Krieg beschleunigte Prozesse, die schon früher begonnen hatten: die Annäherung an die EU, wo in vielen Ländern gleiche Rechte für LGBTIQ+ angestrebt werden, und die Abgrenzung von Russland, das seine trans- und queerfeindlichen Gesetze verschärft.

Petitionen und Gesetzesentwürfe

Im Juni 2022 erreichte eine Petition zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen in weniger als 45 Tagen die erforderlichen 25.000 Unterschriften – ein Rekord. 2023 wurde ein Gesetzesentwurf zu eingetragenen Partnerschaften ins Parlament eingebracht. Dort geriet das Verfahren dann allerdings ins Stocken. Es heißt, ein alternativer Vorschlag sei in Arbeit.

Olena Shevchenko blickt skeptisch in die Zukunft dieser Initiative: „Ich glaube nicht, dass der neue Entwurf es durch die Komitees schafft. Die geopolitische Situation hat sich geändert: Mit dem Sieg von Trump in den USA erstarkt der Konservatismus weltweit. Und die Ukraine ist von westlicher Finanzierung abhängig. Das Fenster der Möglichkeiten schließt sich.“ Sie bedauert, dass westliche Partner nicht mehr Druck ausgeübt haben.

Ein weiteres Anliegen der Aktivist*innen ist ein Gesetz, das sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität explizit in den Diskriminierungsschutz aufnimmt. Das heißt, dass die Strafen für Taten, die aus Hass oder Intoleranz begangen werden, härter werden sollen. Besonders relevant wird dies angesichts der Tatsache, dass 2024 erstmals seit vier Jahren die Zahl der Angriffe gegen LGBTIQ-Personen in der Ukraine wieder gestiegen ist.

Mit 75 dokumentierten Fällen von homo- und transfeindlicher Gewalt sowie Diskriminierung gab es laut der Organisation „Unsere Welt“ in dem Jahr einen deutlichen Anstieg im Vergleich zu 2023 (56 Fälle). Die LGBTIQ*-Aktivist*innen bringen die Radikalisierung der Gegner*innen mit der gestiegenen Sichtbarkeit der LGBTIQ*-Communitys in Verbindung. 

Besetzung und Binnenmigration

In den von Russland besetzten Gebieten verschlechtert sich die Lage ständig. Anastasia Bila von der feministischen Organisation „Inscha“ („Die Andere”) aus Cherson im Süden der Ukraine berichtet: „Evakuierungen werden immer schwieriger. Wir haben auch keine verlässlichen Informationen darüber, was dort passiert, weil es für die Menschen gefährlich ist, in Kontakt mit uns zu bleiben.“ In den besetzten Gebieten gelten russische Gesetze, darunter das Verbot von „Propaganda nichttraditioneller Beziehungen“. Seit 2023 ist auch Transition in Russland verboten, medizinische Eingriffe, hormonelle Behandlungen und Dokumentenänderungen zur Geschlechtsanpassung sind also absolut unmöglich.

Viele Ukrainer*innen finden sich in den besetzen Gebieten nicht nur in einem rechtsfreien Raum wieder, sie haben auch keine Möglichkeit, die für sie lebensnotwendigen Medikamente zu bekommen. Menschen, die fliehen konnten, berichten von Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Doch viele Opfer schweigen aus Angst um ihre Angehörigen vor Ort.

„Was mich hält, ist, was ich behalte“: Albina Jermakowa vor dem Plakat ihres Projekts (Foto: Anastasia Bila)

Albina Jermakova, 38 Jahre alt, Kunstmanagerin und Mitarbeiterin bei „Inscha”, hat selbst Besetzung erlebt. Neun Monate hatte Russland Cherson besetzt gehalten, bis die ukrainische Armee es im November 2022 befreite. Sie kann die Angst gut verstehen. „Unter Besatzung lernst du, dich unsichtbar zu machen, bloß nicht auffallen. Dein Gesicht verlernt langsam, Emotionen zu zeigen. Das ist eine Sicherheitsmaßnahme.“

Unter Besatzung lernst du, dich unsichtbar zu machen, bloß nicht auffallen. Dein Gesicht verlernt langsam, Emotionen zu zeigen – eine Sicherheitsmaßnahme.

Albina Jermakova

Um diese Erkenntnis festzuhalten, hat Jermakova ein Fotoprojekt gemacht, bei dem nur Hände von Frauen fotografiert wurden. Sie würden ehrlichere Geschichten erzählen, meint die Künstlerin. Das Projekt bekam den Namen „Was mich hält, ist das, was ich halte“.

Beide Frauen, Bila und Jermakova, wohnen und arbeiten momentan in Mykolajiw, weil das ca. 60 Kilometer entfernte Cherson von Russland weiterhin stark beschossen wird.

In der Ukraine gibt es 4,9 Millionen Binnengeflüchtete, darunter geschätzt über 300.000 LGBTIQ*. Etwa sechs Millionen Menschen sind ins Ausland geflohen.

Die meisten Binnengeflüchteten in der Ukraine haben mit vielen Hürden zu kämpfen. Viele haben ihre Jobs verloren, müssen neue Wohnungen suchen, ihr Leben von Grund auf neu aufbauen. Für Angehörige der LGBTIQ*-Communitys ist die Situation dabei oft besonders schwer. Notunterkünfte in verschiedenen Städten bieten temporäre Lösungen, reichen jedoch bei weitem nicht aus.

HIV-Versorgung

Menschen mit HIV sind in den von Russland besetzten Gebieten besonders gefährdet, da sie oft keinen Zugang zu Medikamenten haben. Außerdem sind Ersatztherapien für Drogenabhängige dort nicht verfügbar, was zu Rückfällen und erhöhtem Infektionsrisiko führt. Es gibt Berichte über gezielte sexuelle Gewalt, einschließlich absichtlicher HIV-Infektionen.

Was den Rest der Ukraine betrifft, ist die Situation nahe der Front am schwierigsten. Doch dank innovativer Lösungen gelingt es, sie einigermaßen zu stabilisieren. Internationale Stiftungen finanzieren mobile Kliniken, die vor allem in ländlichen und frontnahen Regionen eingesetzt werden. Diese mobilen Ambulanzen leisten Primärversorgung und führen HIV- und Tuberkulose-Screenings durch. Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ liefern Medikamente in schwer erreichbare Gebiete, wo medizinisches Personal vor Ort für ihre Verteilung sorgt. Bis zum 1. Oktober 2024 erhielten 118.529 Menschen in der Ukraine antiretrovirale Medikamente. Laut Untersuchungen der „Allianz für öffentliche Gesundheit“ können 92 % der HIV-positiven Menschen ihre Therapie ohne Unterbrechung fortsetzen.

Situation von trans Personen

2023 stieg die Nachfrage nach Unterstützung bei Transition stark an. Trans Frauen ohne rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts können die Ukraine aufgrund rechtlicher Hürden nicht verlassen. LGBTIQ*-Organisationen haben internationale Netzwerke aufgebaut, um Medikamente zu beschaffen, doch diese Versorgung bleibt begrenzt.

Zudem ist die Transition in der Ukraine kompliziert und wird durch den Mangel an spezialisierten Ärzt*innen erschwert. Viele mit der Community solidarische Mediziner*innen haben das Land verlassen. Der Bedarf an rechtlicher Anerkennung in Zeiten des Krieges wächst jedoch weiter. Im Jahresbericht 2024 der Organisation „Unsere Welt” wird festgestellt, dass laut zahlreichen Aussagen von trans Personen ukrainische Ärzt*innen praktisch aufgehört hätten, „Transsexualismus” und „Geschlechtsdysphorie” zu diagnostizieren. Die Begründung: Diese Diagnosen können dazu dienen, den Militärdienst zu umgehen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Ärzt*innen Strafverfolgung fürchten. Organisationen wie „Insight” und „Unsere Welt” helfen dabei, die notwendigen Informationen und Hilfe zu bekommen.

Wolodymyr Weselowskyj (Foto privat)

Auch für queere Menschen in der Armee ist es sehr wichtig, eine Community zu haben. Dafür wurde bereits 2018 der Verein „LGBTIQ+ Military“ („Ukrainische LGBT-Militärs für gleiche Rechte”) gegründet. Er zählt momentan über 600 Mitglieder, auch Weselowskyj gehört dazu. „Zu wissen, dass ich nicht alleine bin, dass ich jederzeit juristische oder psychologische Hilfe bekommen kann, das hilft sehr“, sagt Weselowskyj. Er träumt davon, nach dem Krieg „ein ruhiges und friedliches Leben zu führen”. Er will dann als Friseur und Tätoowierer arbeiten. Die Skizzen für seine Tattoo-Kunst arbeitet er schon in seiner Freizeit aus.

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