Krieg in der Ukraine

„Ich bin IN der Ukraine. Ich bin AUS der Ukraine“: Queere junge Frauen berichten

Von Gastbeitrag
Demoszene: Person mit Regenbogenmaslke uns Basecap hält rufend die Hände vor dem Mund
"Make love not war": Alina Korineva © Victor_Vysochin @arrideo.photography

Seit fast zwei Jahren führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wie haben junge Queers den Angriff im Februar 2022 erlebt? Wie ging ihr Leben danach weiter, in der Heimat, im Exil, im Krieg? Eine vom KyivPride kuratierte Ausstellung gibt Einblicke in die Schicksale queerer Menschen aus der Ukraine.

Im Rahmen der Ausstellung „Ich bin IN der Ukraine. Ich bin AUS der Ukraine“ entstanden zwölf Porträts, die unter anderem im Münchner schwul-queeren Zentrum SUB und bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin gezeigt wurden. In den hier ausgewählten Ausstellungstexten berichten die drei Ukrainerinnen Nika Nazarenko, Alina Korineva und Angelina Sazonova von ihren persönlichen Erfahrungen.

Weitere Infos und Porträts sind auf der Website munichkyivqueer.org zu finden.

Nika Nazarenko, 24 Jahre alt, Charkiw, trans* Frau, Designerin

Bis zum 24. Februar 2022 war mein Leben ziemlich intensiv. Ich zeichnete animierte Clips, war an der Erstellung eines Show-Interviews (speziell zum Thema ukrainische Identität) beteiligt und erstellte dort visuelle Grafiken. Ich lebte in zwei Städten: Charkiw und Kyjiw.

Charkiw ist meine Heimatstadt, ich liebe sie sehr. Nach Kyjiw bin ich ein halbes Jahr vor der Invasion gezogen und hatte mich noch nicht an diese Stadt gewöhnt. Ich bin nicht ins Ausland geflohen, sondern für zwei Monate nach Lwiw gegangen.

Schon vor dem Krieg hatte ich mich beim Sender Suspilne als Designerin beworben, mit Animationen und verschiedenen Gestaltungsaufgaben geholfen. Ich arbeite jetzt dort, aber der Fokus liegt darauf, den Krieg zu beleuchten. In den ersten zwei Wochen habe ich in der Nachrichtenabteilung geholfen. Und jetzt ist meine Aufgabe, ermutigende und motivierende Clips, Illustrationen und Videoanweisungen zu erstellen (zum Beispiel wie ein Luftalarm funktioniert oder was bei einem chemischen Angriff zu tun ist). Auch in der Freizeit zeichne ich Illustrationen und erstelle Animationen zum Krieg, aber mein Hauptziel ist es, den Menschen Hoffnung zu geben. Leider gibt es jetzt viele Tragödien, und die Hoffnung geht nach und nach zu Ende.

Nika Nazarenko (Foto © Kyiv Pride)

Meine Familie hat es geschafft, von Charkiw in einen anderen Oblast evakuiert zu werden. Ich freue mich, dass es ihnen gut geht, vermisse sie und hoffe, dass wir uns bald wiedersehen. Wir halten ständig telefonisch oder per Telegram Kontakt. Es ist etwas komplizierter mit meinem Vater, er ist beim Militär. Ich weiß nicht mal, wo er gerade ist. Er hat wenig Zeit zum Chatten, daher sieht unser Chat größtenteils so aus: „Wie geht es dir? – Alles okay und dir? – Okay.‟


Die Frage nach der Einhaltung der Menschenrechte für LGBTIQ* und (Nicht-)Diskriminierung während eines Krieges ist sehr komplex.

Nun bin ich nach Kyjiw zurückgekehrt. Vor drei Monaten wurde ich nach Lwiw evakuiert, um weiter arbeiten zu können und um Zugang zu Medikamenten zu haben, die ich brauche.

Die Frage nach der Einhaltung der Menschenrechte für LGBTIQ* und (Nicht-)Diskriminierung während eines Krieges ist sehr komplex. Ich bin eine trans* Frau, die keine Zeit hatte, ihre Dokumente zu ändern. Das hat seine Tücken: an den Checkpoints usw. Aber persönlich habe ich keine offene Diskriminierung erlebt. Ich habe großes Glück mit meinen Kolleg*innen und meinem Umfeld. Es gab Fälle, in denen die Nachbar*innen in einem Wohnheim in Lwiw mich besser verstanden als ich mich selbst.

Während des Krieges sichtbar zu bleiben, ist wichtig. Denn die LGBTIQ*-Community engagiert sich auch in vielfältiger Weise für den Sieg der Ukraine. Wir sind eine Minderheit, also müssen wir laut sein, damit die Mehrheit uns bemerkt. LGBTIQ* kämpfen jetzt für die Zukunft des Landes und wortwörtlich für Rechte und Freiheiten. 

Ich hoffe und will wirklich, dass alle Ukrainer*innen nach unserem Sieg gesetzlich und rechtlich gleichgestellt sind, sich auf den Straßen sicher fühlen, keine Angst vor Aggression haben und keine Angst haben, offen zu leben. Ohne Diskriminierung und Stereotype.

Alina Korineva, 21 Jahre alt, Saporischschja, Social-Media-Managerin des Projekts „Rizni.Rivni‟, bisexuelle Frau

Bis zum 24. Februar 2022 lebte ich, wie die meisten Ukrainer*innen, ein ziemlich gutes Leben. Ich hatte vor, am 26. Februar meinen Geburtstag zu feiern, verbrachte schöne Freitagabende mit Freund*innen, war Social-Media-Managerin des Projekts „Rizni.Rivni“, besuchte hin und wieder das Büro von GenderZed, um dort zu arbeiten, traf wunderbare Menschen, plante, nach Kyjiw zu ziehen, und hatte vor, einige neue Marketing-Kurse zu besuchen.

Eine Freundin und ich zogen kürzlich aus der Ukraine nach Kaunas (Litauen). Wir hatten wirklich sehr viel Glück, denn einige Monate vor Beginn der Invasion war meine Freundin Ira mit der Organisation des Erasmus-Austauschs beschäftigt, der in Saporischschja stattfinden sollte. Sie hatte Kontakt zu einer jungen Frau aus Litauen, die diesen Austausch eigentlich betreute. Diese Frau, Greta, lud uns nach der Invasion ein. Ihre Verwandten boten uns ihre Wohnung an. Jetzt leben wir einzeln, umgeben von wunderbaren Menschen, die uns unterstützen. Das zeigt sich nicht nur bei denen, die uns nahestehen, sondern auch in der Politik Litauens. Und ich persönlich freue mich sehr darüber.

Mir scheint, ich helfe der Ukraine an mehreren Fronten gleichzeitig. Die erste: Ich arbeite weiter, zahle Steuern, versuche, hier und da zu spenden, aber auch einfach Geld zu geben, wenn ich sehe, dass meine Freund*innen, Bekannten oder deren Freund*innen etwas brauchen. Ich habe auch eine Art von Bildungsfront, weil ich jetzt sehr viel mit Litauer*innen kommuniziere. Sie machen den Großteil meiner Umgebung aus. Ich erzähle ihnen über die aktuelle Situation in der Ukraine, räume alle möglichen Mythen aus.

Meine Freundin und ich wurden auch kürzlich zu einem Erasmus-Austausch eingeladen, um einen Vortrag über die Ukraine zu halten. Wir haben über die reale Situation beginnend im 20. Jahrhundert bis heute gesprochen. Gerade jetzt bin ich auf dem zweiten Erasmus-Austausch, wo ich wieder die Möglichkeit habe, über die Ukraine zu sprechen und Fragen von Menschen aus sechs Ländern zu beantworten.

Die dritte Front besteht für mich darin, mir selbst und meinen Lieben zu helfen. Es ist ziemlich normal und logisch, aber für mich ist es sehr wichtig, mit allen Lieben in Kontakt zu bleiben, sie und mich selbst zu unterstützen. Ich weiß, dass ich jetzt in Sicherheit bin; ich habe viel mehr Energie als sie. Deshalb kann ich einen Teil meiner Ressourcen der Ukraine und insbesondere Saporischschja widmen. 

Alina Korineva © Kyiv Pride

Ich komme selbst aus Saporischschja, habe mein ganzes Leben dort verbracht und wollte es nicht verlassen. Ich dachte, ich würde einfach bis zum Ende des Krieges da bleiben. Für mich war der Gedanke immer unlogisch, meine Heimat zu verlassen, bloß weil irgendwo in Russland jemand unsere Territorien haben will, um irgendjemanden vor irgendwas zu retten. Deshalb habe ich es seit Invasionsbeginn viermal abgelehnt, die Ukraine zu verlassen, als meine Freund*innen mir das vorgeschlagen haben. Den Anstoß gab für mich der Tod der Aktivistin Elia Schemur. Wir haben uns zusammen beim Kharkiv Pride engagiert. Ich erinnere mich an Elia als einen sonnigen und wunderbaren Menschen. Die Erkenntnis, dass sie nicht mehr da ist, hat mich sehr belastet. Ich habe verstanden, was da eigentlich passiert. Vorher war ich in einem Zustand der Verleugnung. 

Ich vermisse meine Liebsten und Freund*innen sehr, sie sind unglaublich wichtig für mich. Ich halte ständig Kontakt mit ihnen: Ich telefoniere mit allen mindestens einmal pro Woche, plus jede Menge Chats. Ich mache gerne Videos aus Litauen für meine Freund*innen, weil ich teilen möchte, dass das Leben weitergeht und nicht aufgehört hat. Es ist sehr schwer; ich möchte ja wirklich alle treffen. Wenn ich nun einen schönen Ort in Kaunas oder Vilnius sehe, denke ich daran, dass ich nach dem Sieg meine Freund*innen unbedingt herbringen will. Auch Kaffeeverabredungen, die auf Friedenszeiten verschoben werden, helfen. Das gibt eine gewisse Stabilität und festigt den Glauben, dass wir uns auf jeden Fall treffen werden, in eine Bar gehen, um ein Bier oder einen Kaffee auf der Sommerterrasse zu trinken.

Wir müssen Stereotype bekämpfen und daran erinnern, dass LGBTIQ* überall sind: im Krieg, in der Freiwilligenarbeit, in der Territorialverteidigung, einfach überall.

Es fällt mir sehr schwer, objektiv über Veränderungen in Bezug auf Diskriminierungen zu urteilen. In Saporischschja lebte ich ja in einer Umgebung, die Menschenrechte für LGBTIQ* immer unterstützt hat. In Litauen kommuniziere ich auch mit Leuten, die im vergangenen Jahr den Pride in Kaunas organisiert haben. Meine Bubble nährt die Illusion, dass die LGBTIQ*-Community ziemlich sichtbar ist. Aber wenn man es nüchtern betrachtet, hat der Krieg die Belange queerer Menschen doch stark verdrängt. Vor dem Krieg haben wir viel über den Gesetzentwurf 5488 [über Hate Crimes, Anm. d. Red.] gesprochen und ihn unterstützt. Und selbst die Tatsache, dass es jetzt keine Gelegenheit geben wird, den Pride in der Ukraine durchzuführen, schiebt all diese Fragen zur Seite. Wir müssen Stereotype bekämpfen und erneut daran erinnern, dass LGBTIQ* überall sind: im Krieg, in der Freiwilligenarbeit, in der Territorialverteidigung, einfach überall.

Auch in den Reihen der Streitkräfte und der Territorialverteidigung gibt es Diskriminierung. Im Moment ist es ziemlich schwierig, solche Fälle zu verfolgen. Und das ist ein weiteres Problem, ein zusätzlicher Kampf. Manchmal scheint mir, dass es für die LGBTIQ*-Community nicht einen, sondern mindestens zwei Kriege gibt.

Der Krieg hat unsere Gesellschaft bereits verändert und leider werden die Leben, die wir vor dem Krieg hatten, nicht mehr zurückkehren. Egal wie schmerzhaft es ist, ich hoffe, dass wir eine bessere Gesellschaft aufbauen können. Der Krieg befreit uns von vielen destruktiven Gewohnheiten: von russischen Informationsquellen, russischen Narrativen. Ich glaube sehr stark daran, dass wir damit diese russisch-orthodoxe Idee von der Familie im „klassischen Sinn“ loswerden und auch, dass es eine Sünde ist, queer zu sein. Ich glaube, dass wir weiterhin eine freie, demokratische Gesellschaft aufbauen können, in der alle Rechte für die LGBTIQ*-Community garantiert sind.

Angelina Sazonova, 21 Jahre alt, Kyjiw, Content-Managerin, Fotografin, pansexuelle Frau

Mein Leben bis zum 24. Februar war frei und erfüllt? Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, weil ich vor dem Krieg als Content-Managerin für Web-Seiten gearbeitet habe, soziale Medien studierte, als Fotografin für verschiedene Cafés unterwegs war, mich freiwillig zu den Frauenmärschen und Pride-Monaten meldete. Und jetzt kann ich all das nicht mehr tun.

Ich komme aus Kyjiw, wo ich geboren wurde und mein ganzes Leben verbracht habe, bevor der Krieg begann. Jetzt bin ich in der Tschechischen Republik, in der Stadt Trutnov, 155 Kilometer von Prag entfernt. Leider war es ziemlich einfach, sich für die Flucht zu entscheiden. Meine Eltern und ich waren einen Monat lang bei Verwandten in Kamjanets-Podilskyi, wohin sie uns eingeladen hatten, ohne zu verstehen, dass der Krieg nicht nur eine Woche dauern würde, sodass wir ständig unter moralischem Druck standen. Am Ende hielt es nicht einmal mehr meine Mutter aus und wir kauften Bustickets. Es war einfacher, ins Nirgendwo zu gehen, als unter Druck zu leben. 

Die Reise war ziemlich schwierig: Wir haben zwei Länder durchquert, waren 32 Stunden unterwegs, davon 12 Stunden an der Grenze, 10 Stunden ohne Nahrung und fast ohne Wasser. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig es für meine Katze war, die die ganze Zeit in meinen Armen oder in der Transportbox saß. Ein riesiges Dankeschön den Helfer*innen in Prag, die uns sehr schnell verteilt haben, zu essen gaben und in eine andere Stadt brachten, wo wir Visa, Unterkunft, Informationen und Krankenversicherung bekamen. Ich war erstaunt, wie gut das gesamte System funktioniert! Sogar meine Katze wurde versorgt. Wir leben nun unter ziemlich guten Bedingungen.

Angelina Sazonova © Kyiv Pride

In Tschechien habe ich leider keine Möglichkeit, groß Hilfe zu leisten, also arbeite ich „verdeckt“. Ich teile mit tschechischen Bekannten Nachrichten darüber, was in der Ukraine passiert, verbreite Informationen in sozialen Netzwerken, versuche an verschiedenen Spendensammlungen von Freiwilligen teilzunehmen, die Geld für Medikamente und die Ausrüstung unserer Armee sammeln. Ich versuche, das Gefühl zu bekämpfen, dass ich nicht genug tue. Im Grunde genommen ist mein Leben in Tschechien so etwas wie ein Überlebenskampf. Oft muss ich mit meiner Angst kämpfen. Ich lerne jeden Tag Tschechisch (es stellt sich heraus, dass es gar nicht so schwierig ist!) und ich habe angefangen, 3D-Modellierung zu studieren, ich suche einen Job. Leider kann ich dort, wo ich bin, nur bis Ende Juni bleiben, also weiß ich nicht, wie sich mein Leben ändert. Aber ich habe gelernt, im Augenblick zu leben.

Ich bin traurig, das zu sagen und zuzugeben: Aber meinen Vater vermisse ich nicht – wegen einiger Schwierigkeiten in unserer Beziehung. Mein älterer Bruder führt auch eher sein eigenes Leben, also kommunizieren wir nicht viel. Aber meine Mutter vermisst mich sehr, ich versuche, sie, so gut ich kann, zu unterstützen. Ich vermisse meine Aktivitäten in Kyjiw, das Fotografieren in Cafés und mein ehrenamtliches Engagement (und die Leute, die dabei helfen).

Zur Situation der LGBTIQ*-Community in der Ukraine: Mir ist aufgefallen, dass die Menschen aktiver werden, oder? Ich weiß nicht, vielleicht liegt das an meinem sozialen Umfeld, aber ich merke, dass die Leute weniger auf die sexuelle Orientierung achten, weil wir einen gemeinsamen Feind haben, und das ist russland.

Während eines Krieges – was überhaupt der höchste Ausdruck eines patriarchalischen Systems ist – leiden ALLE.

Es ist wichtig, sichtbar zu sein und über die Rechte von LGBTIQ* zu sprechen, weil es jederzeit relevant ist. Wir müssen uns daran erinnern. Während eines Krieges – was überhaupt der höchste Ausdruck eines patriarchalischen Systems ist – leiden ALLE. Und es lohnt sich, nicht zu vergessen, dass es queere Soldat*innen gibt, die um unser Leben kämpfen. Andere liefern Medikamente, besorgen Wärmebildkameras oder anderes Notwendiges für unsere Kämpfer*innen. Auch wir können Patriot*innen sein. 

Nach dem Sieg sehe ich eine unabhängige Ukraine. Neue Werte, die nicht russland uns aufgezwungen hat. Werte, die wir frei wählen. Keine Diskriminierung, weil es rechtlich geahndet wird. Freiheit für LGBTIQ* ist etwas, das ich wirklich gerne hätte.



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