Über 50 und HIV-positiv? Wie sich das Älterwerden in Deutschland mit HIV und Aids auswirkt, untersucht derzeit die Studie 50plushiv. Wie steht es um die Gesundheit im Alter, um soziale Absicherung, Lebensqualität, aber auch um die Möglichkeiten bei Pflegebedürftigkeit? Ein Teil der Studie ist abgeschlossen, ein Kurzbericht liegt vor. Stephan Kolbe gibt Einblick in die ersten Ergebnisse.

Unsere Gesellschaft altert und mit ihr die HIV-Positiven – dank wirksamer antiretroviraler Therapien und durchschnittlich zunehmendem Lebensalter zum Zeitpunkt der Ansteckung und der HIV‑Erstdiagnose. Von den derzeit knapp 80.000 HIV-Positiven in Deutschland sind nach Angaben des Robert Koch-Instituts schon heute etwa ein Drittel 50 Jahre und älter, Tendenz steigend.

Für die USA wird prognostiziert, dass bereits 2015 die Hälfte aller Menschen mit HIV und Aids das 50. Lebensjahr erreicht haben wird. Ähnliche Szenarien gibt es für europäische Länder: In den Niederlanden beispielsweise rechnet man für 2015 mit einem Anteil von 41 Prozent. Man spricht deshalb auch von einem „Ergrauen“ der HIV-Epidemie.

Fokus auf psychosoziale Aspekte

Doch daran knüpfen sich nicht nur medizinische Fragen, wie etwa: Beeinflusst eine HIV-Infektion den Alterungsprozess? Treten bestimmte Erkrankungen früher oder häufiger auf? Welche Langzeitnebenwirkungen der antiretroviralen Therapie gibt es?

Wie sieht das Sozialleben aus
Auch im Alter sind Sozialkontakte wichtig fürs Wohlbefinden.

Vielmehr geht es auch um die psychischen und sozialen Aspekte des Älterwerdens mit HIV: Wie wirkt sich die Infektion auf die seelische Gesundheit aus? Welche Rolle spielen das soziale Netz und die ökonomische Absicherung? Wie wollen HIV-Positive im Ruhestand leben?

Anhand dieser und anderer Fragen wirft die Studie 50plushiv: Psychosoziale Aspekte des Älterwerdens mit HIV und Aids in Deutschland einen genaueren Blick auf die Lebenssituation der Beforschten. Sie besteht dabei aus zwei Strängen: einer breit angelegten Fragebogenstudie für HIV-Positive ab 50, durchgeführt von der Freien Universität Berlin, und einer vertiefenden Interviewstudie mit Expertinnen und Experten einerseits und älteren Menschen mit HIV andererseits, durchgeführt von der Goethe-Universität Frankfurt. Das auch von der Deutschen AIDS-Hilfe unterstützte Forschungsprojekt wird finanziert durch die H.W. & J. Hector-Stiftung und das Bundesministerium für Gesundheit.

Weitere HIV-positive Interviewpartner gesucht

Die anonyme Befragung wurde erfolgreich beendet und wird derzeit ausgewertet. Mehr als 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten den Fragebogen beantwortet – deutlich mehr als erwartet. In der Interviewstudie ist ein Großteil der Interviews mit älteren HIV-Positiven durchgeführt, die Auswertung steht noch aus.

Partner gesucht
An der anonymen Befragung haben mehr HIV-Positive teilgenommen als erwartet.

Die Forschenden sind derzeit noch auf der Suche nach HIV-Positiven, die entweder auf dem Land leben oder einen Migrationshintergrund mitbringen. Interessierte können über die Website zur Studie Kontakt aufnehmen.

Bereits abgeschlossen sind die Experteninterviews. Befragt wurden insgesamt 17 Personen – aus dem medizinischen sowie dem Pflege- und Versorgungsbereich, aber auch Psycholog(inn)en sowie Mitarbeiter/innen der Aidshilfen und eines Pharmaunternehmens. Die Ergebnisse dieser Interviews wurden vor kurzem veröffentlicht.

Individuelle Folgen der HIV-Infektion

Weitgehende Einigkeit herrschte vor allem bei den medizinischen Folgen einer HIV-Erkrankung: Sofern rechtzeitig diagnostiziert und therapiert, gilt sie mittlerweile als gut behandelbare, chronische Erkrankung. Das machen auch die Autorinnen und Autoren der Studie in der Vorstellung ihres Forschungsprojekts deutlich: Wer sich heute mit 30 Jahren mit HIV infiziert, hat eine prognostizierte Lebenserwartung von 75 Jahren. In den Interview wurde jedoch auch darauf hingewiesen, dass es unter Umständen zu Begleiterkrankungen infolge der HIV-Infektion und der antiretroviralen Therapie kommen könne, so etwa zu deutlichen Cholesterin-Erhöhungen oder  zu Nierenversagen.

Bei den psychischen Folgen stellten die Expert(inn)en vor allem die Depression in den Vordergrund – von depressiven Verstimmungen bis hin zu schweren depressiven Episoden. Ob diese gegenüber jüngeren HIV-Positiven überwiegen, konnte nicht beantwortet werden. Von Depression betroffen seien aber vor allem ältere Drogen konsumierende Positive, weil viele von ihnen sozial isoliert sind.

einsam
Die Depression ist oft eine Begleiterscheinung von sozialer Isolation.

Soziale Isolation und Vereinsamung beschreiben die Expertinnen und Experten generell als Belastung für ältere HIV-Positive. Auch eine frühe Berentung, Langzeitarbeitslosigkeit und drohende Altersarmut stellten eine große Herausforderung dar, da aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel eine gleichberechtigte Teilhabe am sozialen Leben oft nicht möglich sei.

Und nicht zuletzt spielten natürlich auch bei älteren HIV-Positiven Stigmatisierung und Diskriminierungserfahrungen eine große Rolle. So wird von HIV-Positiven berichtet, die in die „innere Emigration“ gegangen seien und ihren HIV-Status, manchmal auch ihr Sexualleben, über Jahre oder Jahrzehnte geheim gehalten hätten. Mit dem Alter und dem Angewiesensein auf Hilfe verstärke sich dann der Leidensdruck.

Auswirkungen auf gesundheitliche Versorgung und Pflege

In den Interviews wurde ebenso ein Blick auf das Gesundheitssystem und die Pflegeeinrichtungen geworfen. So berichteten Expert(inn)en von Stigmatisierungs- und Diskriminierungsfällen, indem man älteren HIV-Positiven die Aufnahme, Behandlung oder Pflege verweigerte. Darüber hinaus bereite aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren vor allem der Umgang mit HIV-Patient(inn)en mit Migrationshintergrund Probleme.

Pflegeheim
Strittig: Inklusion oder spezielle Pfegeangebote für HIV-Positive

Massiver Handlungsbedarf zeigte sich vor allem in der Pflege, wobei sich die Expertinnen und Experten jedoch nicht einig waren, was der richtige Weg sei: Sollte man ältere HIV-Positive im Sinne von „Inklusion“ und „HIV-Mainstreaming“ in die Regelversorgung integrieren? Oder müsse es für sie spezielle Pflegeangebote geben, weil etwa die Lebensweise älterer schwuler Männer oder die kulturellen Gepflogenheiten von Menschen mit Migrationshintergrund vor allem außerhalb der Großstädte nicht in das bestehende System integrierbar seien?

Bis Ende 2014 sollen beide Forschungsstränge der Studie beendet sein, sodass 2015 ein Endbericht vorgelegt werden kann. Diese und weitere Forschungsergebnisse sollen bei den „Positiven Begegnungen“, der Selbsthilfekonferenz von Menschen mit HIV und Aids, im August in Kassel präsentiert werden.

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1 Kommentar

  1. Hallo,

    ich finde es schön, dass zu diesem Themenbereich Studien durchgeführt und veröffentlicht werden. Da kann man über den eigenen Horizont hinaus sehen, wie es anderen in vergleichbarer Situation geht, wie die Entwicklung aussieht, was sich verändert hat, was heute möglich ist.

    Aber: Eine Beschreibung der Situation ändert ja noch nichts an der Situation. Wäre es denn nicht auch möglich, dass die Soziologen, die an derartigen Studien arbeiten, sich auch Gedanken über Lösungswege machen, wie die Situation verbessert werden kann?

    Wir erfahren, dass man als POZ-Schwuler jetzt 75 werden kann. Gut. Wir lernen, dass die meisten ihren Status ein Leben lang geheimhalten, zunehmend für sich allein leben und später vereinsamen. Das ist keine tolle Aussicht und spricht nicht für ein erfülltes Leben. Was also tun?

    Zwar gibt es in großen Städten ein Selbsterfahrungsangebot, aber das geht, bei allem Respekt, meiner Ansicht nach in Richtung Beschäftigungstherapie. Das ist kein glückliches Leben. Was könnte sich ändern, dass alleinstehende (schwule) Männer mit HIV über den ganzen Zeithorizont hinweg bis ins Alter ein schönes Leben führen können und nicht nur während der verlängerten Pubertätszeit?

    Natürlich muss das jeder für sich selbst entscheiden. Aber es ist ja auch nichts Neues, dass jeder Schwule, gar mit HIV, irgendwie die Welt für sich allein neu entdecken muss. Ich wünsche mir schon seit Jahrzehnten mal Vorschläge, wie man die Gesellschaft ändern könnte, damit diese Versteckerei und der Hang zur Vereinsamung verschwindet.

    Vorschläge und Ideen wäre ja schon mal ein erster Schritt. Die Beschreibung der Situation im Rahmen einer Studie ist mir vor diesem Hintergrund einfach zu wenig.

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