Mit seiner Ausstellung Dinosaurs hat Chen Shuval das (Über-)Leben israelischer HIV-Aktivist_innen aus den 1980er- und 1990er-Jahren gefeiert. Allen war nach ihrer Diagnose nur noch eine sehr begrenzte Überlebenschance eingeräumt worden.

Zehn Jahre gaben ihm die Ärzte, als sie feststellten, dass er HIV-positiv ist. Zehn Jahre bis zu seinem sicheren Tod. 1998 war das.

Chen Shuval war damals über längere Zeit krank und ging ins Krankenhaus.

„Sie fragten direkt, ob ich schwul bin. Heute ist das verboten“, erzählt er, als ich ihn Anfang des Jahres in Tel Aviv treffe. Hier wurde er vor 46 Jahren geboren, hier wuchs er auf.

Im Krankenhaus war er von Biohazard-Aufklebern umgeben

Einen Monat verbrachte er nach dem Test im Krankenhaus. Überall war er von „Biohazard“-Aufklebern umgeben – „Achtung, Gesundheitsgefahr!“ signalisierten sie dem Pflegepersonal und den Ärzt_innen.

Sie klebten an seinem Bett, seinem Nachtschrank, sogar auf den Tabletts, auf denen sie ihm sein Essen servierten. „Es war hart“, sagt er heute, „es waren dunkle Zeiten.“

Das Zeichen hat sich ihm so eingeprägt, dass er es sich danach auf die Schulter tätowieren ließ – eine Art trotziges Coming-out, wenige Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus.

© Chen Shuval (Selbstportrait)

Chen Shuval porträtiert Dinosaurier des Lebens mit HIV

Drei Monate später begann er für die Israel AIDS Task Force zu arbeiten, die im Jahr 1985 gegründet worden war, zunächst ehrenamtlich, später als Angestellter.

Sechs Jahre blieb er dort. Aus der Zeit kennt er viele, die sich infiziert haben und denen die Ärzt_innen kaum mehr als zehn Jahr einräumten.

Dinosaurier nennt er sie. Und „Dinosaurs“ lautete auch der Titel seiner Ausstellung, für die er ehemalige Mistreiter_innen fotografiert hat. Sie war im Dezember 2018 in Tel Aviv-Jaffa zu sehen.

Miri Kanevsky (© Chen Shuval)

Unter den Porträtierten ist auch Miri Kanevsky, die sich im Alter von 19 Jahren infizierte, 2002 war das.

Miri Kanevsky: „Mein Körper fühlte sich an wie ein Giftbehälter“

16 Jahre lang erzählte sie niemandem davon. „Mein Körper fühlte sich an wie ein Giftbehälter, vor dem Menschen davonliefen.“

Mit Mitte 30 endlich sprach sie darüber und schrieb das Buch „Positiv“ – sie wollte der Welt mitteilen, dass es für HIV-Positive nichts gab, wofür man sich schämen müsse.

Es sind Geschichten wie diese, die Chen Shuval mit seiner Ausstellung erzählen will.

Bis 2018 hat er noch als Manager eines Community Centers in Cholon gearbeitet, südlich von Tel Aviv.

Zehn Jahre war er dort, dann beschlich ihn immer mehr das Gefühl, dass er etwas anderes mit seinem Leben machen sollte.

Er kündigte seinen Job. 150 Leute hatte er unter sich, bekam ein gutes Gehalt. „Alle erklärten mich für verrückt, aber es fühlte sich nicht mehr richtig an.“

Neues Leben als Fotograf

Seit 2012 machte Chen immer wieder Selfies mit seinem Hund. Bei Instagram war er erfolgreich, die ersten Zeitungen schrieben über ihn.

Dann kaufte er seine Kamera, als er 40 war. Vor drei Jahren hat er angefangen, Fotografie zu studieren.

Am Tag, als ich meinen Job gekündigt habe, beschloss ich, diese Ausstellung zu machen. Das ist ein anderer Weg, etwas zu bewirken, etwas zu hinterlassen. Es fühlte sich wie der Beginn eines neuen Lebens an.“

Er fragte die anderen „Dinosaurier“, die gerne zusagten. „Ich freute mich, dass sie es tun wollten, aber nicht für mich: Sie fanden es selber wichtig.“

Avinof Frumer (© Chen Shuval)

Auch Avinof Frumer ist ein Gesicht der Ausstellung. Er bekam sein Testergebnis im Jahr 1988 – mit 19.

Avinof Frumer: „Ich hatte keine Krankenversicherung, aber eine großartige Liebe“

Drei Jahre später verliebte er sich bei einer Aids-Konferenz in London in Richard und zog mit ihm nach Wien. Zweieinhalb Jahre waren sie zusammen. „Ich hatte keine Krankenversicherung, war ohne medizinische Versorgung, aber genoss eine großartige Liebe“, erinnert sich Avinof. 1994 verstarb sein Partner.

Der Dinosaurier von einst hat vor zwei Jahren zusammen mit Patrick Levy, der ebenfalls Teil der Ausstellung ist, und weiteren Mitstreitern 2017 eine neue Organisation gegründet. Von Menschen mit HIV für Menschen mit HIV – die Organisation für ein Leben mit HIV“. Avinof ist ihr Vorsitzender.

„Die Stimmen von Menschen mit HIV fehlten in Israel“, erzählt er. Sie seien wichtig, um gegen Stigmatisierung zu kämpfen. „Es gibt immer noch Ärztinnen und Ärzte, die sich weigern, Menschen mit HIV zu behandeln.“

HIV-Dinosaurier haben damals die heutigen Rechte erkämpft

Bei allem, was noch zu tun ist: Chen will mit seinen Bildern auf die Verdienste der Dinosaurier hinweisen. „Menschen mit HIV haben heute Rechte, die wir damals erkämpft haben, die wir der Politik abgetrotzt haben. Wir sind in Schulen gegangen, in Arztpraxen, in Zahnarztpraxen vor allem. Wir haben damals die erste Kampagne gegen Stigmatisierung gestartet.“

Früher, erzählt Chen, durfte man immer erst am Abend in die Praxis kommen. „Wenn du kamst, war alles mit Folie eingepackt, die Tür, die Stühle, und der Arzt oder die Ärztin trug zwei Paar Gummihandschuhe.“

Er und seine Mitstreiter_innen haben dafür gekämpft, dass Menschen mit HIV heute kostenlos Medikamente bekommen. Und dagegen gekämpft, dass man entlassen wird, wenn man positiv ist. „Heute kann man in so einem Fall seinen Arbeitgeber verklagen und bekommt Recht. Früher war das nicht so.“

Chen Shuval: „Die jungen Positiven wollen keine Verbindung mit uns“

Auch heute noch arbeitet Chen als Aktivist, steht „als Buddy“ jungen Positiven mit Rat und Tat zur Seite, ähnlich dem „Sprungbrett“-Programm der Deutschen Aidshilfe.

In den letzten fünf Jahren hat sich in der Community etwas verändert, stellt er allerdings fest. „Die neuen jungen Positiven wollen keine Verbindung mit uns. Es ist, als wären wir zwei verschiedene Gruppen. Sie haben nicht dieselbe traumatische Erinnerung wie wir.“

Wenn es nach den jungen Positiven geht, erzählt Chen, gäbe es am Gedenktag für die an Aids Verstorbenen, dem 21. Mai, keine Gedenkstunde.

„Sie wollten lieber eine Party feiern und weiter nichts. Die verstehen nicht, was es für uns bedeutet“, glaubt er. Auch an sie, die neue Generation von HIV-Positiven, richtet sich seine Ausstellung.

Sue Newmann (© Chen Shuval)

Seit 1990 weiß die heute 68-jährige Sue Newman von ihrer HIV-Infektion. Gemeinsam mit anderen Aktivist_innen holte sie damals jeden Abend vom Café Nordau und dem Café Basel gespendetes Essen, um es den Menschen im Hospiz im Tel-HaShomer-Krankenhaus zu bringen. Menschen, die wegen ihrer HIV-Infektion zu Hause rausgeworfen worden waren.

„Niemand verließ diesen Ort lebendig, einige starben schnell“, erinnert sich Sue. „David Lazar war der einzige Rabbiner, der die Menschen im Hospiz besuchte und das Totengebet Kaddisch für die Verstorbenen sprach. Wir setzten alles daran, dass alle dort in Würde leben und sterben konnten.“

In Israel lebt kaum jemand offen mit HIV

Im Zuge der Ausstellung gab Chen das erste Mal Interviews über seine HIV-Infektion, auch andere waren jetzt zum ersten Mal mit dem Thema in der Zeitung. Und die Dinosaurier zeigten sich in seiner Ausstellung erstmals gemeinsam, als Gruppe.

„Es fehlt an positiven Vorbildern“

„Es fehlt an positiven Vorbildern“, glaubt der Fotograf. Niemand, der in Israel einigermaßen prominent ist, outet sich als offen HIV-positiv.

Überhaupt gibt es im ganzen Land kaum 10 Menschen, die in den Medien über ihre HIV-Infektion sprechen. „Und die Medien wollen nicht immer dieselben Leute interviewen“, sagt Chen.

© Chen Shuval

Auch darum will er mit seinen Bildern durch das Land ziehen, die Ausstellung auch in anderen Städten zeigen. Um weiter für Toleranz und gegen Stigmatisierung zu werben. Denn die Zahl der Neuinfektionen nimmt in Israel wieder zu.

Auch beim Thema Stigmatisierung ist noch einiges zu tun. So gibt es eine Person in der Ausstellung, die ihr Gesicht nicht zeigt und deren Namen man nicht erfährt. Die 50-jährige „Anonyma“ bekam 1993 ihre HIV-Diagnose – mit der Aussicht, lediglich noch drei Jahre zu leben. Heute ist sie Mutter zweier Kinder – aus Rücksicht auf die beiden will sie sich nicht erkennen geben.

„Außerdem thematisiert niemand in Israel die Tatsache, dass Menschen unter erfolgreicher HIV-Therapie auch sexuell nicht ansteckend sind“, erklärt Chen. „Vom Gesundheitsministerium wird diese Botschaft nicht verbreitet.“

Aktuell erarbeitet seine Organisation daher eine Aufklärungskampagne dazu, mit Unterstützung des Ministeriums. Zum Pride in Tel Aviv im Juni soll sie fertig sein.

„Dinosaurs“ feierte das Leben der „HIV-Dinosaurier“ – und setzte ihnen zugleich ein Denkmal. Zum Beispiel Uki Ettinger. Ihn fotografierte Chen als ersten für seine Ausstellung.

„Uki liebte es, fotografiert zu werden“, erzählt er. Aber Uki war bereits krank, als er ihn zu Hause besuchte, später traf er ihn im Hospiz. Die Eröffnung der Ausstellung erlebte er nicht mehr.

Bilder aus der Ausstellung „Dinosaurs“ finden sich auf der Website von Chen Shuval.

 

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