Das etwas andere Familientreffen
Wie viele Menschen mit HIV/Aids in den vergangenen 33 Jahren die Positiventreffen im Waldschlösschen bereits besucht haben, weiß niemand so genau. Es dürften einige Tausend gewesen sein, und viele von ihnen sind immer wieder gekommen.
Was 1986 als eine von HIV-Infizierten privat initiierte Begegnung begann, hat sich zu einer der der wichtigsten und beständigsten Institutionen der positiven Community entwickelt. Dieses Wochenende findet in der Akademie Waldschlösschen das mittlerweile 200. Bundesweite Positiventreffen statt. Die Jubiläumsveranstaltung ist zugleich der Abschied von Wolfgang Vorhagen, der sie seit 1987 maßgeblich mitorganisiert hat.
Was die Positiventreffen für die Teilnehmenden bedeuten und welche Wirkung sie auf das Selbstbewusstsein HIV-positiver Menschen hatten und immer noch haben, erzählen Basti (39) und Martin (57) im Interview.
Wann habt ihr erfahren, dass ihr HIV-positiv seid?
Basti: Das war 2014. Ich war wegen einer Syphilis in Behandlung, und dabei wurde dann auch die HIV-Infektion festgestellt.
Martin: Ich habe mein Testergebnis am 11. November 1985 bekommen. Das Datum habe ich mir so gut merken können, weil das mein Namenstag war. Ich hatte auf einer Informationsveranstaltung der Homosexuellen Alternative München erfahren, dass es nun einen anonymen Test gibt, und habe ihn dann in einem Münchner Gesundheitsamt machen lassen. Infiziert habe ich mich mit großer Sicherheit im Juni 1984.
„Ich war sofort Feuer und Flamme.“
Wann habt ihr zum ersten Mal ein Positiventreffen besucht?
Basti: Das war im März 2016, also etwa eineinhalb Jahre nach der Diagnose. Ich hatte ein Jahr lang mit einer Depression zu kämpfen. Mir war es dann gelungen, selbst wieder hochzukommen. Ich bin dann zu meiner örtlichen Aidshilfe gegangen und hab gefragt, ob ich dort ein Praktikum machen kann.
Ich hatte noch Zeit, bis mein Studium losgehen sollte, und dachte, dass mir das auch persönlich ganz guttun könnte. Dort ist mir dann das Programmheft des Waldschlösschens in die Finger gekommen. Die Ankündigung des Positiventreffens fand ich echt ansprechend. Ich war sofort Feuer und Flamme.
Martin: Ich hatte nach meinem Testergebnis mit viel Mühe Anschluss an eine Positivengruppe bekommen. Das lief damals noch unter größter Geheimhaltung ab. Weil ich aber auch etwas tun wollte, habe ich beim ersten großen Aidskongress im Februar 1986 zur Betreuung von Aids- und Aids-Vorfeldpatienten mitgeholfen, den Dr. Hans Jäger in München organisiert hatte.
Dort habe ich Jörg Sauer kennengelernt, der das Treffen im Waldschlösschen im Mai 1986 auf die Beine gestellt hat.
Du warst also gleich beim ersten Positiventreffen dabei?
Martin: Ich bin wahrscheinlich der letzte Überlebende dieses ersten Treffens. Wenn ich mich recht erinnere, war ich damals der einzige Teilnehmer aus München. In meiner Positivengruppe habe ich danach aber so begeistert davon erzählt, dass beim zweiten Treffen auch andere aus meiner Gruppe mitgekommen sind.
„Ich bin wahrscheinlich der letzte Überlebende dieses ersten Treffens.“
Hattet ihr konkrete Vorstellungen, was euch im Waldschlösschen erwarten würde?
Basti: Ich hatte keinerlei Erwartungen. Im Programm war ein Workshop zur Stressbewältigung angekündigt, was ich für mich ganz interessant fand. Aber das war nicht ausschlaggebend. Die Hauptmotivation war, dass ich einfach mal viele andere Positive treffen wollte.
Mit welchem Gefühl im Bauch bist du dort angekommen?
Basti: Wenn du mich heute fragst, bin ich da ganz entspannt angekommen. Ein positiver Freund, den ich dort kennengelernt habe, hat mir aber erzählt, dass er das völlig anders wahrgenommen hat. Er konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wie ich total schüchtern durch die Waldschlösschentür kam. Ich weiß aber sehr genau, dass die Schüchternheit am Ende dieses Treffens völlig verflogen war.
Wie war das beim allerersten Treffen, Martin? Es gab ja noch überhaupt keine Erfahrung, wie ein solches Treffen ablaufen könnte.
Martin: Ich weiß es nicht mehr genau, bin mir aber sicher, dass ich hoffte, dort jemand Nettes kennenzulernen. Mit Sex habe ich eigentlich nicht gerechnet – und als das wirklich eintrat, hatten wir beide keine Kondome dabei! (lacht). Wir waren beide total überrascht von unserer Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, und wir hatten beide zuvor nicht an diese Möglichkeit gedacht. Eigentlich fühlten sich alle Positiven, die ich damals kannte, von der Gesellschaft sexuell ausgeschlossen. Ich hatte aber nicht erwartet, dass die Leute einen solchen Kontaktdruck haben würden.
Der zweite Antrieb war sicherlich die Angst, die wir alle hatten, sehr bald sterben zu müssen. Es gab zwar auch ein politisches, aktivistisches Interesse, der Großteil der Leute war aber einfach einsam und hatte ein extremes Bedürfnis, andere Positive kennenzulernen. Das war bei mir nicht anders.
„Wir hatten alle die Angst, sehr bald sterben zu müssen.“
Basti, wie hast du dein erstes Positiventreffen dann tatsächlich erlebt?
Basti: Es war ein absolut wohltuendes Erlebnis. Ich bin eh ein sehr offener Mensch und habe dort sehr viele Leute kennengelernt. Da ist das Feuer sofort auf mich übergesprungen. Ich wusste schon dort, dass ich wiederkommen wollte, und einige Monate später war ich dann auch bei den Positiven Begegnungen.
War dein erstes Positiventreffen auch dein erster Besuch im Walschlösschen überhaupt?
Basti: Ich war kurze Zeit zuvor schon mal dort. Mein Praktikum in der Aidshilfe habe ich sehr schnell in einen Bundesfreiwilligendienst umgewandelt, und ich habe im Waldschlösschen dann an einem bundesweiten Beratertreffen teilgenommen.
Gab es etwas, das euch völlig überrascht hat? Etwas, das euch vielleicht auch lange über dieses Wochenende hinweg beschäftigt oder euer Selbstverständnis als HIV-positiver Mann verändert hat?
Martin: Ich habe dort erfahren, dass ich mit meiner Einsamkeit nicht allein war. Das hat den Aktivismus in mir verstärkt. Ich habe mich nach dem Treffen deutlich mehr in der Münchner Aidshilfe engagiert. Und ich habe im Waldschlösschen neue Freundschaften schließen können, die für mich sehr wichtig wurden.
Ich hatte aber schon damals mit den positiven Männern Probleme, die im Selbstmitleid versinken und sich Aufmerksamkeit heischend ins Rampenlicht stellen.
Dieses Jammern über schlechte Zurkunftsperspektiven und selbst über kleinste Symptome hat mich völlig heruntergezogen – und mich vor allem auch daran gehindert, meine Angst vor dem Sterben verdrängen zu können.
„Ich habe gelernt, meine Scham und meine Ängste zu verlieren.“
Basti: Ich habe mich vom ersten Moment an sehr aufgehoben gefühlt. Ich bin damals mit meiner Infektion noch nicht richtig klargekommen und sehr unsicher und ängstlich damit umgegangen. Dort bin ich dann auf eine Masse positiver Menschen getroffen, die alle sehr selbstbewusst waren und keine Angst mehr hatten.
Das hat mich total fasziniert. Ich habe wirklich durch die Positiventreffen gelernt, meine Scham und meine Ängste zu verlieren und mein Selbstbewusstsein zu stärken.
Ein wirklicher Gewinn sind für mich diese viele Kontakte, die ich dort knüpfen kann. Nach und nach konnte ich mir so bei den Treffen ein bundesweites Netzwerk aufbauen.
Und noch einen anderen Effekt hatten die Waldschlösschen-Treffen: Ich habe von dort die Motivation mitgenommen, mich auch als Aktivist zu engagieren. Im Sommer 2016 bin ich dann auch schon mit den Leuten von PRO+ Niedersachen in Braunschweig und von PRO PLUS Hessen in Kassel auf den CSDs mitgelaufen.
Rund 80 Menschen sind bei jedem Treffen dabei. Der kleinste gemeinsame Nenner ist der positive HIV-Status. Wie erlebst du dort die Gemeinschaft?
Basti: Was ich immer besonders bereichernd fand, ist der berühmte Raucherpavillon im Garten. Dort ergaben sich abends immer wieder ganz spontan Gespräche mit älteren Teilnehmern. Die haben dann einfach angefangen, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Das fand ich immer sehr beeindruckend, und ich hatte das eine oder andere Mal auch Tränen in den Augen.
Das sind Geschichten aus einer ganz anderen Zeit, die mit ganz anderen Ängsten behaftet sind und vor allem mit einem ganz anderen Leid, als es Positive heute erfahren. Es war für mich immer ein großer persönlicher Gewinn, an diesem Erfahrungsschatz teilzuhaben.
Habt ihr innerhalb dieser bunten Gemeinschaft auch Spannungen erlebt, beispielsweise zwischen den verschiedenen Generationen oder den unterschiedlichen Lebenswelten?
Basti: Ich hatte eigentlich immer Kontakt zu Leuten aus den unterschiedlichsten Generationen. Aber wie beispielsweise bei Klassentreffen oder Familienfeiern, bilden sich natürlich auch bei den Positiventreffen Grüppchen, und man hat seine besonderen Lieblinge, mit denen man mehr Zeit verbringt.
Man schafft es auch nicht, im Laufe eines Treffens wirklich mit allen einmal intensiver ins Gespräch zu kommen. Aber richtige Differenzen habe ich bislang nie dort erlebt. Im Gegenteil: Den Umgang miteinander empfinde ich immer als sehr harmonisch.
Martin: Spannungen und Konflikte bleiben natürlich nicht aus, aber ohne solche Auseinandersetzungen wäre es nur langweilig, und man bliebe in der eigenen Selbstgefälligkeit stecken. Abgesehen davon haben mich die Treffen und die Begegnungen mit anderen Langzeitpositiven sehr geerdet und mich meine Anspruchshaltung in Frage stellen lassen.
„Für manche sind diese Treffen der Jahresurlaub“
Viele haben durch ihre HIV-Infektion nur geringe Rentenansprüche und müssen mit sehr wenig Geld auskommen. Für manche sind diese Treffen so etwas wie der Jahresurlaub. Hier bekommen sie die Aufmerksamkeit und Geborgenheit, die sie sonst in ihrem Alltag nicht erhalten. Mir wird dadurch immer wieder bewusst, wie viel Glück ich hatte und dass es mir selbst nach 35 Jahren Positivsein gesundheitlich und wirtschaftlich recht gut geht.
Ihr seid nun auch beim 200. Treffen mit dabei. Was hat euch bewogen, ein weiteres Mal ins Waldschlösschen zu fahren?
Basti: Das ist dann mein drittes Mal. Ich hätte schon viel früher wieder hingewollt, aber das hat terminlich nie geklappt. Umso mehr freue ich mich, jetzt beim Jubiläum dabei zu sein. Ich bin sogar eingeladen, in einer Podiumsrunde in meiner Doppelfunktion als HIV-positives Community-Mitglied und als Sozialarbeiter in einer Aidshilfe mitzudiskutieren. Das macht mich auch ein bisschen stolz.
Martin: Ich war zuletzt im vergangenen Jahr auf einem großen Treffen. Weil die in der Regel so überlaufen sind, hatte ich eigentlich nicht vor, mich gleich wieder anzumelden. Aber ich wurde aktiv dazu ermuntert, und da konnte und wollte ich nicht nein sagen. Ansonsten war ich dieses Jahr schon auf einem Gesundheitstreffen für Ältere und Langzeitpositive – und besuche gerne auch eine der Winterakademien für Positive, wo konkrete Themen in Arbeitsgruppen angegangen werden.
„Ich habe 35 Jahre überlebt, warum sollte ich das nicht feiern?“
Du bist schließlich ja auch so etwas wie das Bindeglied zwischen dem allerersten und diesem Jubiläums-Positiventreffen. Was nimmst du heute aus den Tagen im Waldschlösschen für dich mit?
Martin: Ich bin nach meinem Studium ins Ausland gegangen und erst vor wenigen Jahren wieder nach sehr langer Zeit zu einem Positiventreffen gekommen – und habe gesehen, dass sie auch im meinem nunmehr fortgeschrittenen Alter noch extrem bereichernd sein können. Als Langzeitpositiver mit gesundheitlichen Problemen habe ich ganz gezielt Treffen ausgewählt, bei denen medizinische Informationen im Zentrum standen. Das war für mich immer wieder erfüllend, oft überraschend, nie unbefriedigend. Dieses 200. Treffen ist für mich in erster Linie jedoch eine Festveranstaltung.
Ich habe 35 Jahre überlebt, warum sollte ich das nicht feiern? Genau das werde ich nun mit vielen anderen Langzeitüberlebenden tun – und vielleicht auch dem einen oder der anderen frisch positiv Getesteten zeigen, dass sie keineswegs die Flinte ins Korn werfen müssen.
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