Performer, Kämpfer für die Deutsche Gebärdensprache, „Sex Pistols“-Fan, Star der Gehörlosenbewegung und des „Kumpelnests 3000“ – eine Legende bei tauben und hörenden Menschen: Wolfgang Müller erinnert an Gunter Trube.

„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie erinnern wir uns an Menschen, die etwas im Umfeld von HIV und Aids bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Diese und andere Fragen zum Gedenken stehen in unserer Reihe mit Porträts von Verstorbenen.

Gunter Trube, vor seiner Hochzeit mit seinem Mann Tom hieß er mit Nachnamen noch Puttrich-Reignard, lernte ich 1979 kennen, als ich im Café „Anderes Ufer“ kellnerte. Er bestellte seinen Kaffee völlig anders als die anderen Gäste: nämlich mit einer Gebärde, der Wortgebärde für „Kaffee“. Auf diese Weise lernte ich von ihm das erste Wort in Deutscher Gebärdensprache (DGS). Und in der Folge mehr Wortgebärden, sozusagen einen DGS-Grundwortschatz.

Gunter Trube wollte die ganze Welt kennenlernen. Und so ignorierte er die Ängste, die unbewussten Abwehr- und Ausgrenzungsmechanismen, welche die Mehrheit der Hörenden gegenüber Gehörlosen entwickelt hat. Übersetzt: genau dort, an dieser Stelle setzte er seine Performance an.

Mit Kunststücken brachte er seine Anliegen „zu Gehör“

So hielt er in der Kreuzberger Oranienbar einen roten Luftballon an sein Ohr, drückte und drehte ihn so lange mit seinen Händen, bis das Quietschen schier unerträglich wurde. Ein Punk sprang herbei und bat um Stille. Gunter antwortete in eigenartiger Sprachmelodie mit unschuldiger Miene: „Ich verstehe dich nicht. Ich bin taub!“

Und während der Punk noch überlegte, aus welchem Land die Nervensäge wohl komme, welcher Akzent das wohl sein könne, war Gunter mit seinen Gedanken bereits woanders. Dass das Wort „verstehen“ in unserer Sprache zweierlei bedeuten kann, nämlich das akustische Verstehen und das geistige Verstehen – das Begreifen –, dies begriff Gunter selbstverständlich. Er verstand es, mit solchen performativen Kunststücken seine Anliegen „zu Gehör“ zu bringen.

Und so wurde er nicht nur unter tauben Menschen, sondern bald auch unter Hörenden bekannt. Gunter Trube war Künstler, Performer, Gebärdenpoet und Aktivist einer neuen Gehörlosenbewegung, ein internationaler Star. Als ich 1980 mit Nikolaus Utermöhlen die Postpunkband „Die Tödliche Doris“ gründete, um mit Klang Übermusikalisches, Außermusikalisches und Unmusikalisches zu erforschen, bekundete Gunter sofort großes Interesse, an unserem Vorhaben mitzuarbeiten.

Er kämpfte für die offizielle Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache

Er war ein großer Fan von Grace Jones, den Sex Pistols und Divine, das schien also schon mal gut zu passen. Und so bestimmte er unter den irritierten Blicken des Tontechnikers im Studio die vibrierenden Bassfrequenzen zum Doris-Stück „Der Tod ist ein Skandal“ (1981), während sein gehörloser Bruder Rolf für uns Schlagzeug spielte.

Nicht nur in lesbisch-schwulen, auch in den Gehörlosen-Gemeinschaften selbst machte Gunter Trube auf Grenzziehungen und Ausgrenzungen aufmerksam. So gründete er 1985 die „Verkehrten Gehörlosen“, einen ersten Zusammenschluss lesbischer, schwuler und trans* Gehörloser in Westberlin.

Ende der 1980er wurde Gunter Trube einer der populärsten Kellner des Berliner Szenelokals „Kumpelnest 3000“. Immer wenn er Schicht hatte, versetzte er das Gemälde des Knaben von Thomas Gainsborough in Schieflage – es hing in Fensternähe neben dem Tresen. Gehörlose sowie auch Hörende konnten daher bereits von außen erkennen, ob er kellnerte.

Als Dragqueen im Leopardenimitat entdeckte und fotografierte ihn dort im Jahr 1991 auch Karl Lagerfeld.[1] Ausgestattet mit einer kräftigen Dosis Selbstironie kämpfte Gunter für die offizielle Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache (DGS) und für die Anerkennung der Gehörlosen als Sprachminderheit.

Er entwarf die erste Aids-Broschüre in DGS

Gemeinsam mit der Fotografin Barbara Stauss entwarf er 1996 die erste Aids-Broschüre in Deutscher Gebärdensprache. In Fotosequenzen klärte er als Darsteller über HIV auf. Mal gebärdete er im Kostüm eines Teufels, mal in Gestalt einer Krankenschwester. Gunter Trube: „Wir Gehörlosen werden nämlich immer gern als Sprachminorität ‚vergessen‘, wenn es um wichtige Information geht.“

Als uns im Jahr 1990 Kuratorin Anne Schmeckies zu einer Einzelausstellung in der Kunsthalle Bremerhaven einlud, stellte sich die Frage, wer da wohl eine Rede halten könnte. Überraschend meldete sich Gunter. Er wolle das gern tun – selbstverständlich in seiner Sprache.

Der Tag der Vernissage war gekommen. Ein ausschließlich hörendes Publikum fand sich in der Kunsthalle ein. Auf Gunter Trubes einleitende Worte zur Eröffnung reagierten die unvorbereiteten Besucher (laut)sprachlos, irritiert, ja bisweilen sogar empört. „Das Zeichen – Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser“ kommentierte die Rede wie folgt:

„Eine volle Dosis ihrer Kunstproduktion gab es von Die Tödliche Doris zu sehen. ‚Elektrisierend und witzig‘ fand eine Bremer Zeitung das alles, und elektrisierend muss insbesondere der Festvortrag zur Eröffnung der Ausstellung gewesen sein. Diesen nämlich hielt der Berliner Gehörlose Gunter Trube in Gebärdensprache, tonlos und ohne Dolmetscher, versteht sich. Die zweihundert geladenen Gäste, die sich derweil an ihren Sektgläsern festhielten, waren sicherlich dankbar dafür, dass ihnen das übliche einschläfernde Gerede erspart blieb. So ein bisschen war es dann aber doch wie in manchem Gehörlosengottesdienst: Der Text der Ansprache wurde schriftlich verteilt. Allerdings nach der gebärdensprachlichen Rede, und wer Gunter kennt, weiß, dass die mindestens so kunstvoll gewesen sein muss, wie die ebenfalls ausgestellten, in Teppichreste eingewickelten Geräuschinstrumente.“[2]

Seine vielfältigen Aktivitäten wirken bis heute

Die vielfältigen Aktivitäten des 2008 im Alter von 47 Jahren völlig unerwartet verstorbenen Gunter Trube wirken bis heute. So eröffnete am 8. Juli 2012 der gehörlose Berliner Sezer Yigitoglu in der Boddinstraße im Bezirk Neukölln das „erste Café für Hörende und Gehörlose, welches von einem Gehörlosen geführt wird und nicht in einen Verein oder eine andere Institution eingebunden ist“. In seiner Einladung schrieb Sezer Yigitoglu: „Natürlich ist mein großes Vorbild Gunter Trube. Ohne ihn hätte ich nie den Mut gehabt, solch ein Projekt zu starten.“

Als ich im Jahr 2011 mit An Paenhuysen gemeinsam die Ausstellung „Gebärde Zeichen Kunst – Gehörlose Kultur Hörende Kultur“ konzipierte, war das für uns auch eine Hommage an Gunter Trube. Dessen Gebärdenperformance an der Berliner Volksbühne 1992 ist Teil der Ausstellung. Sie wurde zuerst 2012/13 im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien und 2014 in den Ausstellungsräumen der Stadtbibliothek von Reykjavík gezeigt. Zu entdecken war Kunst aus Laut-, Schrift- und Gebärdensprache, gestaltet und geformt von gehörlosen und hörenden Künstlern, ein bisher kaum bekanntes Terrain. Die Aids-Broschüre von Gunter Trube lag nun ausgebreitet in einer Vitrine.

Trube entwickelte die DGS-Gebärde für „Elfe“, entlehnt vom isländischen „Álfur“
Trube entwickelte die DGS-Gebärde für „Elfe“ nach dem isländischen „Álfur“

Wenn die Kunst ins Offene geht, das Oben und Unten ähnlich wie in einer Möbiusschleife ungreifbar wird, dann entsteht neue Gestalt, erweitert sich der Raum. Vielleicht so wie die DGS-Wortgebärde für „Elfe“. Diese entwickelte Gunter Trube in meiner Reihe „Elfenkongress“ an der Berliner Volksbühne in einem Dialog. Der isländische „Álfur“ aus der isländischen Gebärdensprache, der Íslensk Táknmál, wurde dabei zum Lehnwort für die DGS-Wortgebärde.

[1] Fotos abgebildet auf Seiten 10 u. 11 in: Wolfgang Müller/An Paenhuysen (Hg.), Gebärde Zeichen Kunst, Gehörlose Kultur/ Hörende Kultur, Berlin 2012.

[2] Das Zeichen 6, Hamburg 1990.

 

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