„Die, die es wissen müssen, wissen es – sonst rede ich nicht darüber“
Mit beiden Frauen treffe ich mich im Büro von Birgit Körbel, der „verantwortlichen Fachkraft für den Bereich zielgruppenspezifische Prävention im Frauen- und Familienzentrum der Aidshilfe Köln“ – so ihr offizieller Titel. Das FFZ berät und betreut seit vielen Jahren HIV-positive und an Aids erkrankte Frauen.
Am Fenster des Büros steht ein Schreibtisch, in der gegenüberliegenden Ecke befindet sich ein Spielbereich: Zwei kleine Stühle warten an einem Tisch mit Stiften, Bauklötzen, einem Kuscheltier und Büchern auf die kleinen Besucherinnen und Besucher, die mit ihren Müttern hierherkommen. Unter und neben dem Tisch stehen Kisten mit Gesellschaftsspielen und Malbüchern.
„Ohne das Zentrum wäre ich wohl heute nicht mehr hier“
Direkt neben der Eingangstür hängt eine Pinnwand, die mit rotem Samtstoff überzogen ist. Darauf findet sich ein Sammelsurium aus Urlaubskarten, neuen und älteren Ankündigungen oder Terminhinweisen der Aidshilfe Köln, Zeitungsartikel, Geburtsanzeigen von Kindern HIV-positiver Mütter, Dankesschreiben, Bilder – von Kinderhand gemalt –, Fotos von Frauenwochenenden und verstorbenen Besucherinnen des Zentrums – ein Archiv der Erinnerungen.
Mitten im Raum, am runden Holztisch, sitzt mir Ayse gegenüber. Sie ist 41 Jahre alt. Ihr offenes Lachen und das strahlende Gesicht laden zum Gespräch ein. Vor zehn oder elf Jahren kam sie in das Zentrum mit den vielfältigen Angeboten. So ganz genau weiß sie nicht mehr, wann und wie. Jedenfalls bekam sie den Tipp bei einem Arztbesuch.
Bis heute ist sie dankbar, dass die Mitarbeiterinnen sich um sie gekümmert haben und einen großen Teil des Weges mit ihr gegangen sind. Das positive Testergebnis hatte sie damals regelrecht umgehauen: „An das erste halbe Jahr kann ich mich nicht erinnern. Ich hatte einen Black-out. Ich bin in ein sehr tiefes Loch gefallen. Es hat lange gedauert, bis ich da rausgekommen bin. Wenn ich das Zentrum nicht gehabt hätte, wäre ich heute wohl nicht mehr hier. Das weiß ich.“
120 Frauen nutzen regelmäßig die Angebote des FFZ
Ayses Ansprechpartnerin ist seit vielen Jahren Doris Kamphausen. Doris berät und betreut als eine von derzeit zwei Mitarbeiterinnen die HIV-positiven Frauen. Manchmal bedeutet das auch, sich außerhalb der Aidshilfe mit einer Klientin zu treffen. Nicht alle der 120 Frauen, die regelmäßig die Angebote des Zentrums in Anspruch nehmen, trauen sich in die Einrichtung. Berührungsängste spielen eine Rolle, aber auch die Angst, vielleicht bei Betreten des Zentrums gesehen zu werden.
So ging es Mary. „Jetzt ist mein Leben zu Ende“, beschreibt sie ihr Gefühl als sie die HIV-Diagnose bekam. Auch sie steckt heute wieder voller Energie, und die Sätze sprudeln zunehmend im Laufe des Interviews.
Nach dem positiven Testergebnis hatte sie viele Fragen. Ein Berater vom Gesundheitsamt empfahl ihr eine HIV-Schwerpunktärztin. Die erzählte ihr von den Angeboten für Frauen der Aidshilfe Köln. Mary scheute aber zunächst den Gang dorthin: „Ich weiß nicht genau, warum, aber ich hatte diese Blockade, so eine Angst. Andererseits wollte ich mehr darüber wissen, wie das Leben weitergeht.“ Die Ärztin fand eine Lösung: Mitarbeiterinnen der Aidshilfe kamen zur Präsenzsprechstunde in die Praxis.
„Ich genieße, dass ich unabhängig bin“
Vor wenigen Wochen erst hat Mary ihre Ausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen. Seit drei Jahren führt sie eine tolle Beziehung mit einem HIV-negativen Mann, der versteht sich auch prima mit ihrer zehnjährigen Tochter. Das nächste Projekt planen die beiden schon: die erste gemeinsame Wohnung.
Ayse ist Single, hat zwei erwachsene Töchter. „Ich bin eine junge Mutter. Momentan genieße ich, dass ich alles selbstständig entscheiden darf. Dass ich unabhängig bin.“
Viele Jahre fühlte sie sich abhängig. Ihre frühe Ehe scheiterte, ebenso eine darauf folgende längere Beziehung. Es ist regelrecht zu spüren: Gern redet sie darüber nicht. Sie sagt über ihre Ehe nur: „Die war nicht schön.“ Und über die Beziehung danach: „Die war auch nicht schön. Weil mein Partner damals fremdgegangen ist und sich nicht geschützt hat.“ Genaueres erzählt sie nicht, sagt später nur noch: „Ich hatte Angst vor ihm. Es hat auch sehr lange gedauert, bis ich Nein gesagt habe.“
Vom Sachbearbeiter im Jobcenter fühlte sie sich erniedrigt
Während dieser Zeit war vor allem Doris vom FFZ eine große Unterstützung für Ayse: „Vieles hätte ich damals nicht geschafft, mit den Behörden, mit den Ärzten. Am Anfang ist es sehr schwer. Man weiß nicht, wo vorne und hinten ist.“ Dann kam irgendwann die Trennung von ihrem Partner. „Gott sei Dank“, sagt Ayse erleichtert. Seit fünf, sechs Jahren geht es ihr sehr gut.
Während der Ehe war Ayse fünf Jahre Hausfrau. Mit Unterstützung von Doris gelang es ihr, eine Ausbildung als Büropraktikerin zu machen, fand bald darauf eine feste Stelle.
Ayse ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, besitzt aber noch die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes. Die sei bei der Jobsuche kein Problem gewesen, die Krankheit dagegen schon. Doris begleitete sie zum Arbeitsamt. Ayse wollte ehrlich sein und gab dort ihre HIV-Infektion an: „Ich habe gedacht, es wird dadurch einfacher. Das war nicht so. Im Gegenteil.“
Von ihrem Sachbearbeiter fühlte sie sich erniedrigt. Er war unfreundlich. Sie spürte genau, dass sich die Abneigung auf die Infektion bezog. Dann lacht Ayse zufrieden: „Letztes Jahr habe ich gegen das Jobcenter einen Prozess gewonnen. Das hat mir sehr gut getan.“
Schlechte Erfahrungen beim Zahnarzt und im Krankenhaus
Ausgrenzung erfuhr Mary, die nach dem Abitur als Au-pair aus Afrika nach Deutschland kam, zuerst aufgrund ihrer Hautfarbe. Eine potenzielle Arbeitgeberin schlug ihr die Tür vor der Nase zu, als sie sich vorstellen wollte.
Schlechte Erfahrungen machte sie auch im Medizinbetrieb – zum Beispiel beim Zahnarzt. Erst war dieser nur zurückhaltend, als sie ihm von der Infektion erzählte. „Aber als ich zum Kontrolltermin kam, hat er mich komisch behandelt.“ Durch ihre Schwerpunktärztin fand sie dann aber einen Zahnarzt, der auch mit HIV-positiven Patienten respektvoll umgeht.
In Krankenhäusern erlebte Mary schon mehrfach ungerechte Behandlung. „Die Ärzte lesen die Akten nicht und beschweren sich dann, wenn ich nicht sofort etwas von meiner Infektion sage“, sagt sie aufgebracht. Das macht sie wütend. Eigentlich sollten gerade Ärzte und Pflegepersonal es besser wissen, doch außerhalb von Schwerpunktpraxen und -Kliniken wüssten diese zu wenig über HIV und Aids. Mary geht deshalb nicht mehr in jede Klinik, wenn sie es sich aussuchen kann.
Auf einer Workshop-Fahrt lernte sie ihre beste Freundin kennen
Nachdem sie einige Zeit nur zur Beratung im Zentrum war, hatte Mary irgendwann den Wunsch, sich mit anderen HIV-positiven Frauen auszutauschen. Regelmäßig geht sie jetzt zum Frauencafé, und sie fuhr schon auf mehrere Workshop-Wochenenden mit. Auf einer der Fahrten lernte sie ihre beste Freundin kennen.
Ayse hingegen traut sich nicht, noch weitere Angebote im Frauen- und Familienzentrum wahrzunehmen. Der Grund: Sie möchte ihre HIV-Infektion lieber für sich behalten. „Ich traue mich nicht, darüber zu reden wegen meiner Familie und meiner Herkunft. Weil es immer noch ein Tabu bei uns ist. Die einzige, die es weiß, ist meine Schwester.“ In ihr hat Ayse eine Vertraute und sagt: „Die, die es wissen müssen, wissen es – sonst rede ich nicht darüber.“
Auch Mary schweigt gegenüber ihrer Familie, aus Angst, abgestempelt zu werden: „Die wissen gar nichts von HIV. Für die ist das ein Todesurteil.“ Sie bekommt manchmal mit, wie Bekannte von ihr, die ebenfalls aus Afrika kommen, sich über das Thema unterhalten. Hinter vorgehaltener Hand wird dann über andere geflüstert: „Hast du schon gehört, die hat HIV. Mit der will ich nichts mehr zu tun haben.“ Oft spürt Mary in solchen Momenten den Impuls, ihnen erklären zu wollen, wie es wirklich ist – lässt es dann aber doch.
Die Mitarbeiterinnen machen einen tollen Job
Ihr Freund hingegen reagierte positiv, als sie ihm von der Infektion erzählte: „Er unterstützt mich sehr und hat sich über die Krankheit informiert.“ Neben ihm fand sie auch in ihrer Ex-Schwiegermutter eine Vertraute. Auch nach der Trennung von deren Sohn blieben die beiden eng befreundet. Erst war sie geschockt, als sie von der Infektion hörte, kam dann aber mit zur Aidshilfe. Sie wollte mehr über die Krankheit erfahren.
Sowohl Ayse als auch Mary sind sehr zufrieden mit den Angeboten der Aidshilfe Köln. Ayse sagt mit einem strahlenden Lächeln über die Mitarbeiterinnen: „Die Damen sollten auf jeden Fall so bleiben, wie sie sind. Sie machen einen tollen Job, nehmen einem die erste große Angst.“
Inzwischen regeln die beiden das meiste allein und brauchen nur noch selten Unterstützung. Mary wünscht sich aber für die Zukunft, dass die Aufklärung über HIV und Aids noch besser greift. Damit die Krankheit kein Tabu mehr ist – überall, auch in Deutschland.
*Namen geändert
„Ich habe nie daran gedacht, dass es HIV sein könnte“ (Frauen und HIV 1, erschienen am 6. März 2015)
„Wir müssen Frauen mit HIV stärken“ (Frauen und HIV 2, erschienen am 7. März 2015)
„Das sind meist einfach nur Frauen, die ein Kind kriegen“ (Frauen und HIV 3, erschienen am 8. März 2015)
„Ängstlich gekommen und großartig beschenkt nach Hause gefahren“ (Frauen und HIV 4, erschienen am 10. März 2015)
„Wir brauchen mehr frauenspezifische Forschung!“ (Frauen und HIV 5, erschienen am 12. März 2015)
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