Abschied der Dinos: Ein Gespräch mit Marianne Rademacher und Karl Lemmen
Im DAH-Kolleg_innenkreis, so hört man, habt ihr euch selbst immer wieder als Dinos bezeichnet. Gehört ihr zu einer aussterbenden Art?
Marianne: Klar.
Karl: Auf jeden Fall. Wir fühlen uns als Dinos, weil wir beide am selben Tag, dem 1. September 1986, angefangen haben, im Aidsbereich zu arbeiten. Ich bei der Berliner Aids-Hilfe und Marianne als Schoolworkerin beim Berliner Senat. Wir haben uns dann immer mal wieder in unterschiedlichen Einrichtungen getroffen.
Marianne: Und nun hören wir am selben Tag auf.
Marianne Rademacher und Karl Lemmen: Mehrere Jahrzehnte Erfahrung im HIV-Bereich
Das heißt, ihr hattet euer gesamtes berufliches Leben hindurch mit HIV, Aids und sexuell übertragbaren Krankheiten zu tun.
Marianne: Bei mir gab es immer wieder mal Unterbrechungen. Ich habe beispielsweise mal bei Pro Familia als Beraterin gearbeitet und ab 2002 zwei Jahre zum Infektionsschutzgesetz geforscht. Aber letztlich stimmt das. Ich habe zwar nicht immer für die Aidshilfe gearbeitet, das Thema aber hat mich durchs ganze Berufsleben begleitet.
Karl: Es gibt Kollegen von mir, die arbeiten ein ganzes Leben für die Caritas. Ich denke, ich hab da doch besser in die Aidshilfe gepasst.
Marianne: Gerade die ersten Jahren waren allerdings auch sehr traurige Zeiten, weil die Erkrankten ja sprichwörtlich gestorben sind wie die Fliegen. Heute ist HIV gut behandelbar, für mich persönlich also ein guter Zeitpunkt, um aufzuhören. In zehn Jahren, denke ich, werden wir über die Heilung sprechen. Da bin ich guter Dinge.
Auch in zehn Jahren wird eine Institution notwendig sein, die sich um die sexuelle Gesundheit kümmert
Karl: In der Berliner Aids-Hilfe hatten wir damals den Spruch: Wenn es ein Mittel gegen Aids gibt, dann lösen wir den Laden auf. HIV wurde tatsächlich behandelbar – die Aidshilfen gibt es aber immer noch, und das aus gutem Grund. Denn es gibt auch weiterhin noch viel zu tun.
Und auch in zehn Jahren wird eine Institution notwendig sein, die sich um die sexuelle Gesundheit kümmert. Man darf nicht vergessen: Vor der Gründung der Aidshilfe gab es einen solchen Anwalt für die sexuelle Gesundheit nicht.
Tägliches Brot der Aidshilfen sind jene, die bedürftig sind
Marianne: Auch wenn sich die Behandlungsmöglichkeiten enorm verbessert haben: Das tägliche Brot der lokalen Aidshilfe sind insbesondere Menschen, die bedürftig sind – und die gibt es ja weiterhin. Gerade unter den Frauen gibt es viele, die Hilfe benötigen. Sei es, weil sie ökonomisch schlechter dastehen, oder weil es ihnen gesundheitlich nicht gut geht, weil ihre Infektion zu spät diagnostiziert wurde.
Was hat euch 1986 dazu bewogen, euch in diesem Bereich beruflich zu engagieren? Als Psychologe und als Ärztin hättet ihr ja auch in ganz anderen Feldern tätig werden können.
Marianne: Ich bin wie die Jungfrau zum Kinde in diesen Bereich gekommen. Eigentlich wollte ich Chirurgin werden, aber als ich mein Studium beendet hatte, gab es diese große Ärzte-Arbeitslosigkeit. Der Berater beim Arbeitsamt sagte mir dann: „Also, hier ist mindestens seit drei Jahren keene Arztstelle mehr übern Tisch jejangen.“
Dann hörte ich von dem Schoolworker-Projekt, für das sie arbeitslose Ärzte und Lehrer suchten. Wir waren dann die Ersten in ganz Deutschland, die überhaupt eine Art Fortbildung zu HIV und Aids bekommen haben. Da wurden eigens Experten nach West-Berlin eingeflogen. Für zwei Monate bekamen wir einen Crashkurs, von Mikrobiologie bis Pädagogik, und sollten danach in die Schulen ausschwärmen. Die damalige Gesundheitsministerin Rita Süssmuth hatte dann kurze Zeit später beschlossen, dass alle Gesundheitsämter bundesweit mit einer Aidsfachkraft ausgestattet werden sollen.
Viele meiner damaligen Kolleginnen und Kollegen aus dem Schoolworker-Projekt – wir waren um die 80 – sind dann nach Westdeutschland in die Gesundheitsämter gegangen. Ich kam zum Gesundheitsamt Tiergarten und hatte, wie später ein Sozialforscher herausgefunden hat, die allererste Aidsfachkraftstelle in der Republik. Es war zugleich die erste Aids- und Drogenberatungsstelle.
Und was hat dich, Karl, zur Berliner Aidshilfe gebracht?
Karl: Auch ich war nach meinem Studium erst einmal arbeitslos, denn offene Psychologenstellen gab es damals in West-Berlin genauso wenig. Mein bester Freund war der erste fest angestellte Mitarbeiter der Berliner Aidshilfe, aber nach eineinhalb Jahren so fertig, dass das Arbeitsverhältnis völlig zerrüttet war.
„Es war eine ungeheuer spannende Zeit“
Er hatte nichts dagegen, dass ich mich auf die Stelle bewarb. Damals hieß es in der Schwulenszene zwar, das sei ein völlig zerstrittener Haufen. Aber ich hatte ja nichts zu verlieren – und bin schließlich sechs Jahre dort geblieben. Es war eine ungeheuer spannende Zeit, weil wir damals die Organisation zusammen aufbauten.
Anfangs waren wir fünf Mitarbeiter – als ich ging, bereits 20. Auch die Zahl der freiwilligen Helfer wuchs. Natürlich hatte auch die persönliche Betroffenheit etwas damit zu tun, dass ich dort arbeiten wollte. Ich hatte schon sehr früh, 1983, einen Aidskranken in meinem Freundeskreis. Er war Stewart bei der Pan Am und ist im Jahr darauf auch bereits gestorben.
Aidshilfe-Arbeit zwischen Dachverband und Mitgliedsorganisationen
Die längste Zeit eures Berufslebens habt ihr für die Deutsche AIDS-Hilfe gearbeitet.
Marianne: Ich war genau zehndreiviertel Jahre bei der DAH.
Karl: Ich war sogar doppelt so lange bei der DAH. 1992 habe ich bei der Berliner Aids-Hilfe gekündigt. Es waren so viele Menschen gestorben; nicht nur Klienten, sondern auch Menschen, mit denen man jahrelang in der Aidshilfe zusammengearbeitet hatte. Das ertrug ich einfach nicht mehr.
Ich habe dann eine Weile mit chronisch Alkoholkranken gearbeitet und gemerkt, dass die genauso schnell gestorben sind wie die Aidskranken. Da konnte ich genauso gut wieder in den Aidsbereich zurückgehen und kam so zur Deutschen AIDS-Hilfe.
In der DAH warst du dann ebenfalls für die Beratung zuständig, wenn auch nicht mehr im direkten Kontakt zu den Klient_innen.
Karl: Die DAH-Stelle war wie für mich gemacht, weil sie meiner Vorstellung von Aidshilfe-Arbeit entsprach: Fortbildung als wichtigen Bestandteil der Beratungsarbeit zu verstehen und darüber die Organisation zu gestalten und den Dachverband mit den Mitgliedsorganisationen zu einen.
In den vielen Jahren, die ihr für die DAH gearbeitet habt, ist viel auf den Weg gebracht und erreicht worden. Worauf seid ihr persönlich besonders stolz?
Karl: Wir standen damals vor der Frage: Macht jeder seins oder machen alle eins? Dass wir es hinbekommen haben, dass nicht jeder in seinen Töpfen rührt, sondern wir gemeinsam die Suppe kochen und jeder die Zutaten mitbringt, die er hat, ist für mich der größte und wichtigste Erfolg.
Macht jeder seins oder machen alle eins?
Das Ziel war, dass der Dachverband mit seinen Mitgliedsorganisationen zusammenarbeitet und die fachliche Arbeit koordiniert – und nicht nur irgendwelche Leistungen erbringt.
Zum Beispiel Broschüren und Plakate zu produzieren.
Karl: Richtig. Für mich sind solche besonderen Meilensteine die gemeinsame Telefon- und Onlineberatung. Das wurde dann später fortgeführt mit Projekten wie IWWIT oder jetzt den Checkpoints. Eine solche Form der Zusammenarbeit hatte mir damals in der BAH am meisten gefehlt, aber in der DAH konnte ich das tatsächlich umsetzen.
Marianne: Der Frauenbereich ist immer speziell. Diese Stelle war in der DAH zuvor immer ein Schleudersitz; ich war nach drei Jahren bereits die Dienstälteste in dieser Position. Man braucht Haare auf den Zähnen – die habe ich, und ich konnte mich ganz gut durchsetzen.
„Im Frauenbereich der DAH braucht man Haare auf den Zähnen“
Ich denke, ich konnte den Frauenbereich ein gutes Stück voranbringen. Zum einen, indem ich die Mitgliedsorganisationen, insbesondere die Frauenreferentinnen in den Aidshilfen, zusammenbringen, koordinieren und mit ihnen gemeinsam Projekte entwickeln konnte, etwa die Webseite frauenundhiv.info. Zum anderen, indem ich den Kontakt zu den HIV-positiven Frauen gesucht habe. Ich bin dazu beispielsweise regelmäßig zu den Treffen ins Waldschlösschen gefahren, um in Gesprächen zu erfahren, was ihre Bedürfnisse, Wünsche und Probleme sind.
Karl: Vor allem ist es dir gelungen, die Themen Sexarbeit und Frauen mit HIV in deiner Arbeit zu verbinden.
DAH als Modell für gelungene Partizipation
Und worauf kann eurer Ansicht nach die Deutsche AIDS-Hilfe als Organisation stolz sein?
Karl: Die DAH ist zu einem Modell für gelungene Partizipation geworden. Das höre ich immer wieder, wenn ich mit Kollegen von anderen Organisationen rede. Sie haben ungeheuren Respekt dafür, in welchem Ausmaß die DAH mit eben diesen Menschen zusammenarbeitet, für die sie arbeitet.
Was die DAH dabei besonders auszeichnet, ist, dass sie das hinbekommen und gleichzeitig eine hohe Professionalität entwickelt hat. Meistens funktioniert in Organisationen nämlich entweder das eine oder das andere.
Marianne: Die DAH ist dadurch Vorbild für andere geworden und hat da sicherlich auch eine Art Paradigmenwechsel eingeleitet.
Wir haben jetzt über Erfolge gesprochen. Welche Fehler, Fehleinschätzungen oder Versäumnisse sind eurer Ansicht nach der DAH als Organisation unterlaufen?
Marianne: Ich hatte durchaus harte Zeiten in der DAH. Der Frauenbereich hatte es lange Zeit nicht einfach, ihm wurde einfach nicht die zustehende Aufmerksamkeit geschenkt. Man musste da als Frauenreferentin immer wieder vorpreschen und den Finger in die Wunde legen. Das war anstrengend, aber in den letzten Jahren hat sich das sehr verbessert.
„Manche Themen hat der Dachverband zu früh gesetzt“
Karl: Eine Fehl- oder Falscheinschätzung fällt mir eigentlich nicht ein. Aber ich denke, dass wir manchmal Themen zu früh gesetzt haben und die deshalb nicht gezündet haben.
Kannst du da ein Beispiel nennen?
Karl: HIV und Arbeit ist ein solches Thema, in das sich die DAH zu einem Zeitpunkt reingehängt hat, als viele schlicht noch zu krank waren. Das Thema ist dann einfach weggesackt und es war schwer, es erneut aufzugreifen, als es dann tatsächlich notwendig war. Etwas anders gelagert ist hingegen die Sache mit dem EKAF-Statement.
Die Eidgenössische Kommission für Aidsfragen (EKAF) hatte 2008 in einem Statement formuliert, dass HIV bei erfolgreicher Therapie selbst beim Sex ohne Kondom nicht übertragen werden kann.
Karl: Der DAH wurde immer vorgeworfen, zu spät auf diese Erkenntnis reagiert zu haben. Ich bin vielmehr noch heute sauer auf die Ärzte. Denn sie wussten ja längst, dass ihre Patienten nicht mehr ansteckend sind, wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze ist, und sie sagten denen das dann auch. Aber keiner der Ärzte hatte den Mumm, dies auch öffentlich zu äußern. Das sollte die Aidshilfe für sie tun, doch die verfügte damals noch nicht über die medizinische Autorität. Heute ist das anders.
Was bedeutet der Generationenwechsel in den Aidshilfen?
Wie ihr gehen nun nach und nach eine ganze Reihe von Aidshilfe-Mitarbeitenden der ersten Stunde in den Ruhestand. Was bedeutet dieser Generationenwechsel für die Mitgliedsorganisationen und den Dachverband selbst?
Karl: Es ist gut, dass es Veränderungen gibt. Ich bin ja auch nur deshalb so lange bei der DAH geblieben, weil sich die Organisation ständig weiterentwickelt hat. Sonst hätte ich mich bestimmt angefangen zu langweilen. Und Aidshilfe wird sich stetig weiter verändern und zu einer ganz anderen Organisation wandeln.
Keine Angst, dass euer über die Jahrzehnte erworbenes Fachwissen, all die Erfahrungen und Erkenntnisse nun einfach verloren gehen?
Karl: Es ist ganz sicher gut, einen Teil dieses Wissens zu erhalten, dafür haben wir in meinem Bereich gesorgt. Zu meinem Aufgabengebiet gehörte auch, systematisch Wissenssicherung und Qualitätssicherung zu betreiben, also beispielsweise alle Konzepte so zu verschriftlichen, dass sie auch ohne meine Person weitergeführt werden können.
Die Diskriminierung von Menschen mit HIV wird ein zentrales Thema der Aidshilfe-Arbeit bleiben
Im neuen Jahr werden neue Menschen eure Positionen übernehmen. Was sind die wichtigsten Probleme, die sie auf jeden Fall im Auge behalten und weiter bearbeiten sollten?
Karl: Ich würde ihnen zunächst einmal raten, sich nicht zu viel auf einmal vorzunehmen. Dieses Thema verführt dazu, mehr zu tun, als gut für einen ist. Die Arbeit sollte einem Spaß machen, aber nicht krank machen. Und zweitens: Unsere Nachfolger bzw. Nachfolgerinnen sollten Geduld bewahren.
Ich habe die Veränderungsprozesse in der Aidshilfe als sehr langsam erlebt, dafür aber sind sie wirksam. Es braucht Geduld, um Themen nicht zu früh zu pushen, sondern die Leute dabei mitzunehmen und sie letzten Endes für die Veränderung zu gewinnen.
Marianne: Wenn man für eine Nichtregierungsorganisation arbeitet und das mit Herzblut macht, weiß man, dass das ein Stück weit Selbstausbeutung ist.
Die Diskriminierung von Menschen mit HIV wird nach wie vor ein zentrales Thema der Aidshilfe-Arbeit bleiben. Im Frauenbereich sind da ganz besonders die Sexarbeiterinnen betroffen. Ich fände es wichtig, dass die DAH hier weiterhin eine kritische Stimme bleibt. Auch beispielsweise bei der Debatte um das „Prostitutiertenschutzgesetz“.
Rentner_innen haben bekanntlich nie Zeit, weil sie so viel zu tun haben. Was sind eure Pläne für den Ruhestand?
Karl: Ich habe mir noch gar keine Gedanken dazu gemacht, weil ich schlicht keine Zeit dazu hatte. Ich werde jetzt erst einmal anfangen, Pläne zu machen. Ich werde es genießen, mehr Zeit zu haben und mehr auf meine Gesundheit zu achten. Und wenn mir langweilig werden sollte, werde ich irgendwo ehrenamtlich arbeiten.
Marianne: Ich freue mich darauf, endlich über meine Zeit verfügen zu können, ohne fremdbestimmt zu sein. Ich werde sicherlich weiterhin Seminare geben, denn das war mir der liebste Teil meiner Arbeit. Und dann will ich meine Dissertation schreiben, natürlich zum Thema Frauen und HIV. Wenn ich schon nicht Fachärztin geworden bin, so wenigstens nun eine richtige „Frau Doktor“.
Karl: Es gibt tatsächlich auch ein Thema, mit dem ich mich beschäftigen werde: die organisationalen Bedingungen sexuellen Missbrauchs. Ich finde es spannend, hier die unterschiedlichen Organisationen wie Kirchen, reformpädagogische Einrichtungen wie die Odenwaldschule oder auch die Situation in der DDR miteinander zu vergleichen. Ob dann daraus vielleicht auch eine Doktorarbeit wird, wird man sehen.
Vielen Dank für das Gespräch, eure Arbeit für die Aidshilfe und alles Gute für euren neuen Lebensabschnitt!
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