Stethoskop
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HIV ist ein schwer übertragbares Virus – im Alltag und im Arbeitsleben ist keine Ansteckung zu befürchten. Statistiken zeigen außerdem, dass HIV-positive Arbeitnehmer im Schnitt genauso leistungsfähig sind und genauso wenig oder viel Fehlzeiten haben wie ihre Kollegen (unter denen es ja auch Menschen mit anderen chronischen Krankheiten geben kann). Dieses Wissen ist aber bei vielen Menschen noch nicht angekommen, wie die Journalistin Sabine Otto im Gespräch mit dem Arzt Thomas R.* erfuhr (*Name von der Redaktion geändert):

Thomas, du bist Facharzt für Innere Medizin in eigener Praxis und hast auch HIV-positive Patienten. Aber nicht alle Kollegen oder Patienten wissen, dass du selbst HIV-positiv bist. Warum ist das so?

Beim Outing unterscheide ich – oute ich mich meinen Klienten oder meinen Arbeitskollegen gegenüber? Einige meiner positiven Patienten kennen meinen Serostatus, und ich habe das Gefühl, dass damit verantwortungsvoll umgegangen wird. Für manche ist es tatsächlich eine Hilfe, zu wissen, dass auch ihr Doktor positiv ist. Meinen Kollegen gegenüber bin ich ehrlich gesagt noch unentschlossen und wäge Vorteile und Nachteile gegeneinander ab. Insgesamt betrachte ich die Mitteilung als meine sehr persönliche Sache, die stark von dem Vertrauensverhältnis, das zu Arbeitskollegen besteht, bestimmt wird. Weil ich in meiner Leistungsfähigkeit, wie mittlerweile viele andere Positive, kaum beeinträchtigt bin, fühle ich mich auch nicht unter Druck gesetzt. Außerdem – auch wenn die HIV-Infektion mittlerweile als chronisch behandelbar gilt, ist die gesellschaftliche Akzeptanz den medizinischen Fortschritten nicht unbedingt gefolgt.

Ist ein „positives Coming-out“ also schwieriger als das Coming-out als Schwuler?

Ja, absolut. Das Coming-out als HIV-Positiver ist auch nach Jahren ein immer noch nicht abgeschlossener Prozess für mich. Es ist viel schwieriger als das schwule Coming-out. Mit dem schwulen Coming-out gehen viele schöne Dinge einher. Du schüttelst die vorgelebte, normative Sexualität ab. Du erlebst viel Aufregendes, machst schöne Erfahrungen, lernst deinen ersten Freund kennen und tauchst in ein neues Leben ein. Ein positives Testergebnis ist zwar auch aufregend, aber in einem sehr unangenehmen Sinne, es war für mich mit sehr viel Stress verbunden. Man setzt sich dann nicht mit den Spaßfaktoren des Lebens auseinander, sondern mit Krankheit, Sterben und Tod. 1998, als ich mein positives Testergebnis erhielt, waren die Perspektiven für mich noch ganz andere als heute. Die Kombinationstherapien gegen HIV wurden damals erst seit zwei Jahren auf breiter Basis eingesetzt, und man wusste noch nicht, dass man bei guter Behandlung einmal eine annähernd normale Lebenserwartung bei guter Lebensqualität haben würde.

Manchen Patienten hilft es, wenn auch ihr Arzt HIV-positiv ist

Du hast ja erst ziemlich spät einen HIV-Test machen lassen.

Ja, erst, als es nicht mehr ging und sich Krankheitssymptome zeigten. Ich habe mich lange vor dem Test und dem damit verbundenen Ergebnis gedrückt. Das war damals bei vielen meiner Freunde so, dass man sich fragte: Warum sollst du dich mit einer Sache belasten, an der man sowieso nichts ändern kann? In den Anfangszeiten gab es ja noch keine wirksame Behandlung. Das hatte sich zwar schon 1995/96 geändert, aber ich habe die Entwicklung „verschlafen“. Ich musste dann sofort mit der Behandlung anfangen, weil meine Werte nicht gut waren. Von da an verschwand ich fast täglich in den Katakomben der Universitätsbibliothek und versuchte, fehlendes Wissen aus Fachjournalen zu erwerben. Das war gut, weil ich so schnell herausfand, dass meine Behandlung damals medizinisch nicht mehr auf der Höhe war. Ich habe mir dann einen anderen Arzt gesucht und bekam dort eine neue Kombinationstherapie, unter der sich mein Gesundheitszustand rasch besserte. Wir haben über die Jahre ein sehr gutes Vertrauensverhältnis aufgebaut, er hat mich gefördert und ermuntert, mich auch beruflich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Hast du anderen schnell von deinem positiven Testergebnis erzählt?

Ja, noch am selben Tag. Zunächst meinem besten Freund und später auch dem allerengsten Freundeskreis. Das waren vielleicht zwei bis maximal drei Leute, die ich sehr gut kannte und zu denen ich Vertrauen hatte. Es hat sich dann auch keine Freundschaft wegen meines Positivseins aufgelöst.

Weiß deine Familie, dass du positiv bist?

Die gesellschaftliche Akzeptanz ist den medizinischen Fortschritten nicht unbedingt gefolgt

Nein. Da schwangen dann natürlich die Erlebnisse mit, die ich noch von meinem schwulen Coming-out in Erinnerung hatte, aber ich sehe auch gar keine Notwendigkeit dazu. Klar, die Familie kann eine ganz wichtige Ressource bei der Unterstützung in Lebenskrisen sein, es bleibt aber eine individuelle Entscheidung.

Wie ist das positive Coming-out gegenüber neuen Partnern, Sexualpartnern?

Am Anfang hatte ich Panik, jemanden infizieren zu können und niemanden mehr kennenzulernen. Auch, weil ich mir bis dahin selbst nicht vorstellen konnte, mit einem Positiven zusammen zu sein. Aber das hat sich im Laufe der Jahre vollständig aufgelöst. Auf meine Sexualität hat der positive Status kaum noch Einfluss. Der Umgang in der Schwulenszene ist mittlerweile relativ offen. Wenn du mit jemandem zusammen bist, von dem du das Testergebnis nicht kennst oder wenn sein Testergebnis negativ ist, dann wird Safer Sex gemacht. Viele meiner Freunde sind auch positiv, da erübrigt sich das Thema.

Auf dem letzten Deutsch-Österreichischen Aids-Kongress in Hannover hast du dich bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „HIV und Erwerbsleben“ auch in der Öffentlichkeit als positiv geoutet. Warum?

Das war eine spontane Entscheidung, aus einem Bauchgefühl heraus – ursprünglich wollte ich nicht aufs Podium. Aber kurz vorher hatte ich ein Erlebnis, dass mir wieder gezeigt hat, wie viel Unwissen und Vorurteile es gibt – und dass man was dagegen tun muss: Ein Mann kam zu mir in die Praxis und wollte einen HIV-Test machen. Er hatte gehört, dass der Pächter einer Kneipe, in die er öfter ging, HIV-positiv war. Der hatte nicht etwa Sex ohne Kondom mit ihm gehabt – er war gar nicht schwul –, sondern hatte allein schon deshalb Angst, weil er mit ihm in einem Raum gewesen war.

Und wie waren die Reaktionen auf dein Coming-out, wie hast du das erlebt?

Viele meiner Kollegen waren bei dieser Veranstaltung anwesend. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich, angesprochen wurde ich danach aber nur von wenigen. Es gab wohl einige, die es „kopfschüttelnd“ zur Kenntnis nahmen, und andere, die mir später sagten, dass es ein richtiger und wichtiger Schritt gewesen sei. Ich war überrascht, als ich von einem Bekannten erfuhr, dass der Podiumsauftritt zum Aufhänger der Kongressberichtserstattung in der Samstagsausgabe der FAZ wurde. Ich empfand den Artikel insgesamt als positiv und differenziert.

In deinem Beruf hast du sehr viel mit HIV-Positiven zu tun. Welche Erfahrungen haben die mit ihrem Coming-out am Arbeitsplatz gemacht?

Ich kenne Leute, die sich am Arbeitsplatz geoutet haben und die … (Pause) Es gibt nur wenige, die wirklich schlechte Erfahrungen gemacht haben. Ein Fall, das war ein Manager im Automobilbereich, wohl auch ein sehr konservatives Unternehmen. Als seine Krankheit irgendwie im Betrieb öffentlich geworden ist, hat man ihm ziemlich schnell zu verstehen gegeben, dass es nicht zum Firmenimage passe, HIV-positiv zu sein. Das war das extremste Beispiel, von dem ich gehört habe. Dabei dürfte es im Berufsleben eigentlich keine Einschränkungen für HIV-Positive geben. Sogar ein Gefäßchirurg, der sicher unterhalb der Nachweisgrenze ist, stellt für Patienten keine Gefahr dar und könnte seine Tätigkeit weiter fortführen. Wo kein Virus, da gibt es auch keine Übertragungsmöglichkeiten. Das wissen aber selbst viele Betroffene nicht, und gesamtgesellschaftlich ist das auch noch nicht angekommen. Ich betrachte diese Erkenntnis hier aus der rein beruflichen Perspektive – die Prävention von sexuell übertragbaren Erkrankungen bleibt weiterhin unverzichtbar.

Viele Probleme sind eher psychosozialer Natur

Warum ist das Coming-out in der Firma für viele Betroffene trotzdem so schwierig?

Schau dir doch die Werbefilme vieler Unternehmen an. Da kann der Spot noch so forsch und jugendlich daherkommen, wichtig ist ein „unbeflecktes“ Image. Stell dir zum Beispiel einfach ein großes deutsches Bankinstitut vor. Da geht man nicht zu irgendwelchen Empfängen ohne Ehefrau und outet sich schon gar nicht als HIV-positiver schwuler Mann.

Ist es wirklich das Imageproblem, oder dominiert bei Arbeitgebern die Angst vor Ausfallzeiten und Leistungseinschränkung?

Du hast natürlich deine regelmäßigen Arzttermine. Normalerweise gehe ich einmal im Quartal zum Arzt, um meine Laborwerte checken zu lassen. Das ist aber etwas, was auch viele andere chronisch Kranke für sich in Anspruch nehmen. Und in Bezug auf Leistungseinschränkungen sehe ich da bei mir, wie bei vielen anderen, zurzeit keine Probleme. In meiner Praxis sehe ich, dass viele Probleme und Ausfallzeiten nicht körperlicher, sondern eher psychosozialer Natur sind, also unter anderem mit der Krankheitsbewältigung zu tun haben.

Was wünschst du dir also?

Einen selbstverständlicheren Umgang mit der Erkrankung. Dass man nicht tagelang darüber nachdenken muss, ob man irgendjemandem ein Ergebnis mitteilen muss oder nicht. Dass Leute sich nicht gezwungen fühlen, ihre Medikamente heimlich auf der Personaltoilette einzunehmen, und sich nicht rechtfertigen müssen, wenn sie einen Arzttermin wahrnehmen müssen. Dass Arbeitsplätze geschaffen werden, die auf die individuellen Bedürfnisse von Betroffenen zugeschnitten sind. Dass die Krankheit endlich den Stellenwert erfährt, den sie mittlerweile aufgrund der medizinischen Fortschritte und Erkenntnisse im Jahre 2011 haben sollte. Ich wünsche mir, dass für uns alle Normalität in diese ganze Geschichte einkehrt.

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Gastautor_innen schreiben für magazin.hiv

1 Kommentar

  1. Dieser Beitrag gefällt mir. Da bringt einer gut auf den Punkt, worauf es bei HIV wirklich ankommt: Normalität erzeugen und zulassen. Wenn das in allen gesellschaftlichen Situationen gelänge, wäre das HIV-Problem gelöst. Die medizinische Frage würde ich vor diesem Hintergrund sogar als zweitrangig einstufen.

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