Call Me by Your Name, die Kinobearbeitung von André Acimans Bestseller, ist eine emotional mitreißende und zugleich subtile Geschichte einer ersten großen schwulen Liebe. Kinostart: 1. März 2018

Dieser ländliche Ort im Norden Italiens erscheint wie ein verträumtes Paradies, losgelöst von der Welt: eine alte Villa, umgeben von einem Garten mit prächtigen Pfirsichbäumen, in dem die Zeit zum Stillstand gekommen ist. Man sitzt im Freien beim Brunch, badet im historischen Pool, plaudert, liest, spielt Klavier – und „wartet einfach, bis der Sommer vorüber ist“, sagt Elio (Thimotée Chalamet).

Filmplakat Call me by your name (Sony Pictures)
Filmplakat „Call Me By Your Name“ (Sony Pictures)

Antike Statuen, Flirts und Faszination

Der 17-Jährige verbringt mit seinen Eltern die Ferienmonate auf dem Perlman’schen Familienanwesen. Und wie in den Vorjahren hat sein Vater, ein Archäologe, auch diesmal wieder einen Doktoranden zu Gast. In diesem Sommer soll der US-Amerikaner Oliver (Armie Hammer) ihm helfen, Dias antiker Statuen zu sortieren und Papiere zu archivieren.

Es geht mondän, großbürgerlich und zugleich freigeistig zu in der Familie Perlman. Man parliert in wechselnden Sprachen, ist genießerisch und weltoffen. In einem ungewohnt gemächlichen Tempo und mit ausgesucht sinnlichen Bildern setzt Regisseur Luca Guadagnino dieses sonnensatte Großbürger-Idyll in Szene. Und tastet sich dabei behutsam an die sich langsam, aber unaufhaltsam entwickelnde Liebesromanze zwischen Elio und Olive heran.

Zu Beginn aber empfindet Elio den etwas zu selbstbewussten, stets charmanten und wortgewandten Studenten eher als störendes Element. Als Oliver ihm anbietet, ihm den Nacken zu massieren, wehrt er diese Berührung energisch ab – und ist doch fasziniert, ohne diese Anziehung bereits deuten zu können. Ohnehin sind beide sehr darauf bedacht, sich beim Flirten mit Mädchen und Frauen sehen zu lassen. Insbesondere als ein älteres schwules Paar zu Besuch kommt, knutscht Elio demonstrativ mit seiner französischen Freundin.

Unsicherheiten und widerstreitende Gefühle

Die erotische Spannung zwischen Elio und Oliver ist für den Zuschauer geradezu greifbar, und das nicht nur, weil die beiden allenthalben mit freiem Oberkörper und nur in Boxershorts bekleidet zu sehen sind. Und letztlich ist es der viel unerfahrenere Elio, der die Sache in die Hand nimmt, alle Unsicherheiten und widerstreitenden Gefühle überwindet – und sich den sieben Jahre älteren Oliver erobert.

„Call Me By Your Name“ ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnlicher queerer Film. In seiner Art scheint er wie aus der Zeit gefallen. Erst nach und nach lässt sich die Handlung durch einige Details – kitschig-dramatische Italo-Pop-Schlager, Walkman statt iPod und Diaprojektoren statt Videobeamer – den frühen 80er-Jahren zuordnen. Dass der schwule Altmeister James Ivory, der mittlerweile 90-jährige Schöpfer von Filmklassikern wie „Maurice“ und „Zimmer mit Aussicht“, am Drehbuch mitgewirkt und den Film produziert hat, glaubt man auch in der sinnlichen Inszenierung und opulenten Ausstattung zu erkennen.

Die Liebe, die sich zwischen Oliver und Elio entwickelt, ach was: explodiert, bleibt zwar weitgehend im Verborgenen, aber es wird auch deutlich, dass sie beide keine Repressionen durch die Gesellschaft oder die Familie erwarten müssten. In Guadagninos Film, der auf dem gleichnamigen, 2007 veröffentlichten Bestseller des US-Autors André Aciman basiert (auf Deutsch unter dem Titel „Ruf mich bei deinem Namen“ erschienen), sind Männerbeziehungen zwar nicht alltäglich, aber eigentlich kaum der Rede wert.

Eine der wohl ungewöhnlichsten Masturbationsszenen der Filmgeschichte…

Das mag etwas weltfremd erscheinen, ermöglicht Guadagnino aber, sich ganz und gar auf das zu konzentrieren, was Oliver und vor allem Elio umtreibt: den eigenen Platz in der Welt zu finden, ihr Begehren und Verlangen, die Neugierde bei der Entdeckung des anderen Körpers und der Sexualität – und nicht zuletzt die Gefühle füreinander und die damit verbundenen Widersprüche. Elios Scham etwa ob seiner ungehemmten sexuellen Lust – gipfelnd in einer der wohl ungewöhnlichsten Masturbationsszene der Filmgeschichte: dem feucht-fröhlichen Missbrauch eines überreifen Pfirsichs.

Wer sich auf dieses so leichtfüßige wie melancholische Gefühlsdrama einzulassen vermag, der wird unweigerlich in eine der betörendsten Liebesgeschichten der letzten Jahre hineingezogen und sich vielleicht in so manchen Situationen dieser emotionalen Erkundungsreise selbst wiederentdecken.

Armie Hammer (der für die Rolle des Oliver vielleicht ein wenig zu alt wirkt) und Newcomer Thimotée Chalamet (der zu Recht mit einer Oscar-Nominierung belohnt wurde) gelingt es, ihr Gefühlswirrwarr, all das Zögern, die Unsicherheiten und den emotionalen Überschwang absolut glaubhaft, eindringlich und gänzlich kitschfrei zu verkörpern.

Szenenbild "Call Me By Your Name" (Sony Pictures)
Szenenbild „Call Me By Your Name“ (Sony Pictures)

Dem Abschied folgt der Schmerz

Der Rausch der Gefühle endet hier mit dem Sommer. Dem Abschied folgt der Schmerz, und dieser Liebeskummer benötigt, wie so vieles in diesem Film, kaum Worte. Körpersprache, Blicke, Gesten und atmosphärischer Bilder reichen aus, um nachempfinden zu können, was es bedeutet, die erste richtig große Liebe nicht leben zu können.

Was dann folgt, ist der einzige erklärende Monolog dieses Films, der wohl kaum Zuschauer_innen unberührt lassen wird. Elios Vater (Michael Stuhlbarg) versucht seinen Sohn in seinem Abschiedsschmerz zu trösten, ganz auf Augenhöhe und auf eine Art und Weise, wie sich das jeder Schwule von seinen Eltern nur wünschen kann. Seine kleine Ansprache hat nichts von einem nichtssagenden „Wird schon wieder“-Ratschlag, ist weder mahnend noch zeugt sie von Befremden, ganz im Gegenteil. Er weiß das Besondere dieser Freundschaft zu erkennen und sieht es als Geschenk: etwas ganz Außerordentliches mit einem anderen Menschen erlebt zu haben, das vielen Menschen über ihre ganze Lebensspanne versagt bleibt.

„Call Me by Your Name“. Regie: Luca Guadagnino. Mit Thimothée Chalamet, Armie Hammer, Esther Garel, Michael Stuhlbarg u. a. Italien/Frankreich/USA 2017, 133 Minuten. Kinostart: 1. März 2018

Trailer zum Film: https://www.youtube.com/watch?v=sBVbtKqn61w

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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