Am 16. April 2018 hat sich Conchita Wurst als HIV-positiv geoutet – um einer Erpressung zuvorzukommen. Aktivist Marcel Dams, auf Facebook als @Teilzeitvlogger, auf Twitter unter @marcel_dams und auf YouTube ebenfalls als Teilzeitvlogger unterwegs, hat sich aus diesem Anlass seine Gedanken zum Leben mit HIV 2018 gemacht. Herzlichen Dank für die Erlaubnis, sie hier zu veröffentlichen*!

Conchita, ich und viele andere haben HIV und können dank des medizinischen Fortschritts weiterhin normal leben, arbeiten, Kinder kriegen und das Virus bei gut funktionierender Therapie sogar beim Sex ohne Kondom nicht weitergeben.

Dennoch macht das Leben mit dem HI-Virus immer noch angreifbar, und manche denken, es sei ein Makel, der sich zur Erpressung eigne, wie die aktuellen Geschehnisse rund um #ConchitaWurst zeigen.

Dahinter stecken Scham und Angst. Denn erpressbar ist man nur, wenn etwas sichtbar würde, was so unangenehm ist, dass man vieles dafür, tut es geheim zu halten.

Leben mit HIV 2018

Conchitas Ex-Freund ist genau hiervon ausgegangen. Leider hat er etwas Wichtiges vergessen.

Es ist 2018. Die Zeit der Scham ist vorbei.

Ich habe seit meiner HIV-Diagnose, die ich 2009 mit 20 Jahren bekam, viele miese Situationen erlebt.

Eine damalige Freundin wollte mich nicht mehr berühren.

Mein langjähriger Zahnarzt verweigerte mir die Behandlung, weil ich für andere Patient_innen angeblich gefährlich werden könnte.

Lange glaubte ich selbst, dass etwas mit mir nicht stimmt

Ein früherer Kumpel ohrfeigte mich und sagte, ich hätte es verdient, da ich dumm sei.

Männer, die ich datete, fanden mich „wirklich nett und hübsch“, konnten sich jedoch keine Beziehung vorstellen, weil sie Angst hatten, was andere denken, oder mich als „gesundheitliches Risiko“ für sich sahen. Einer wollte mich sogar anzeigen, obwohl wir in einer Bierlaune nur rumgeknutscht hatten und ich ihn nicht vorher über meinen Status aufklärte.

Es ist nichts falsch an denen, die mit HIV leben

Lange glaubte ich, dass mit mir wirklich etwas nicht stimmt. Dafür wertete ich mich ab und verinnerlichte die Stigmatisierung von außen.

Dies war so schwer erträglich, dass ich irgendwann etwas verändern musste. Und mir wurde klar, die Scham konnte nur durch eine Person durchbrochen werden: Mich!

Mein Engagement ist kein Aktivismus aus einer Opferrolle heraus. Ich bitte nicht mehr darum, normal behandelt zu werden. Ich verlange es!

Es ist nichts falsch an uns, die mit HIV leben.

Unwissen und Vorurteile sind das Problem, nicht meine Infektion

Eine Freundin, die mich nicht berühren will, ist keine richtige Freundin.

Ein Zahnarzt, der mich nicht behandeln will, versteht nichts von seinem Job.

Ein Typ, der mich wegen des Virus ablehnt, hat mich nicht verdient.

Wer mich ohrfeigt, hat kein Recht dazu, sondern sich selbst nicht unter Kontrolle.

Deren Unsicherheit, deren Scham, deren Vorurteile oder Unwissen sind das Problem. Nicht meine Infektion.

Selbstakzeptanz braucht Zeit

Denn ich habe nicht gesündigt, muss nicht Buße tun, mich entschuldigen oder um Solidarität betteln.

Ich empfinde keine Scham oder Schuld aufgrund meiner HIV-Infektion. Also möchte ich auch nicht, dass man mir oder einem anderen Menschen diese von außen überstülpt.

Das klingt jetzt sehr einfach, war es aber nicht.

Meine Selbstakzeptanz brauchte Zeit und war mit viel Schmerz verbunden, weil eine Trennung von jenen Personen, die mich nicht so nahmen wie ich bin, unvermeidbar war. Dazu gehörten Familie, Freund*innen und Partner*innen, also Menschen die ich eigentlich liebte, die mir aber nicht gut taten.

Ich bin aus sozialen Normen ausgebrochen – das ist für mich ein Kern von Emanzipation

Heute sehe ich diese Trennung als eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens.

Nur so konnte ich mich denen zuwenden, die mich ohne Bedingungen lieben und schätzen.

Meine Freund*innen, meine Community, meine aktivistischen Mitstreiter*innen und mein Partner sind meine Wahlfamilie.

Ich bin aus sozialen Normen und meinem Umfeld ausgebrochen, als es notwendig wurde, und habe mir eine Alternative erarbeitet.

Wir sind keine hilflosen Opfer, sondern wehren uns gegen Stigma und Scham

Das ist für mich ein Kern von Emanzipation.

Wenn wir über unseren HIV-Status sprechen und uns zeigen.

Wenn wir uns nicht als hilfloses Opfer sehen, sondern uns aktiv gegen Stigma und Scham wehren.

Wenn wir das Bild vom Leben mit HIV verändern, verändern wir die Gesellschaft

Wenn wir für selbstbestimmte Sexualität und vielfältige Lebensstile einstehen.

Wenn wir das Bild vom Leben mit HIV verändern, verändern wir die Gesellschaft und die Bedingungen, in denen wir leben.

Das ist für mich der andere Kern von Emanzipation.

Es gibt viele Gründe, warum man von der Gesellschaft oder den direkten Mitmenschen nicht akzeptiert wird.

Mir ist egal, welcher „euer“ Grund ist.

Ich wünsche euch allen die Kraft und die Freude, die schwierigen Hürden des Lebens zu überwinden und es in vollen Zügen genießen zu können.

Das geht nicht immer sofort, aber mit der Zeit wird es hoffentlich einfacher.

Oder wie Conchita Wurst sagen würde: We are unstoppable!
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Mehr Infos:
– Menschen mit HIV können das Virus beim Sex nicht weitergeben, wenn ihre Viruslast unter der Nachweisgrenze ist! https://www.aidshilfe.de/schutz-therapie
– Fast normale Lebenserwartung für Menschen mit HIV dank medizinischem Fortschritt! https://www.aidshilfe.de/…/fast-normale-lebenserwartung-men…
– Keine Angst vor HIV in der Zahnarztpraxis! https://www.aidshilfe.de/mel…/keine-angst-hiv-zahnarztpraxis
– Ein Kinderwunsch muss nicht unerfüllt bleiben: Zeugung, Schwangerschaft und Geburt sind trotz der HIV-Infektion möglich! https://www.aidshilfe.de/kinderwunsch

 

*Das Original hat Marcel am 16.4. auf Facebook veröffentlicht.

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