Pünktlich zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember erschien Larry Kramers Roman „Schwuchteln“ auf Deutsch. Ein Porträt des unbequemsten, aber vielleicht auch wichtigsten schwulen Schriftstellers der Gegenwart von Paul Schulz.

Larry Kramers „Schwuchteln“: beißende Satire und lange pornografische Erzählung. Foto: David Shankbone
Larry Kramers „Schwuchteln“: beißende Satire und lange pornografische Erzählung. Foto: David Shankbone

Was man über Larry Kramer wissen sollte: Er ist eine Nervensäge. Und positiv. Er hat in den letzten 30 Jahren vermutlich mehr Menschen das Leben gerettet als das UN-Flüchtlingshilfswerk. Außerdem ist er einer der wichtigsten amerikanischen Schriftsteller der letzten 50 Jahre – und vielleicht der Autor, den viele Kollegen in einer an Missgunst nicht gerade armen Branche am meisten hassen. Er war für seine Drehbücher, Romane und Stücke schon für den Oscar und den Pulitzer-Preis nominiert und hat mit „Faggots“ einen der ewigen Bestseller der amerikanischen Literatur geschrieben. Trotzdem hat es 33 Jahre gedauert, bis Kramers Roman unter dem schmissigen Titel „Schwuchteln“ auf Deutsch erschienen ist.

Larry Kramer sagt von sich, er sei erst 1980 – zu Beginn der Aidskrise – geboren worden. Tatsächlich kam er am 25. Juni 1935 auf die Welt, als jüngerer von zwei Brüdern. Die Familie gehörte zum gutsituierten jüdischen Bürgertum von Oregon im US-Bundesstaat Connecticut. Larry war ein unglückliches Kind, das seine Eltern nicht mochten, aber ein guter Schüler. 1953 begann er ein Studium der Englischen Literatur an der Elite-Universität Yale, versuchte aber noch im selben Jahr, sich mit einer Überdosis Aspirin umzubringen, weil er einsam war und dachte, er sei der einzige Schwule auf dem gesamten Campus.

Die schwule Prä-Aids-Szene in ihrer ganzen sinnesfreudigen Pracht, aber auch kompletten emotionalen Leere

Der Selbstmordversuch setzte seine Lebensthemen: die Akzeptanz schwulen Lebens und das Nachdenken über die Natur der Liebe unter Männern sowie die Umstände, die ihr entgegenstehen. Nachdem er sein Studium 1957 erfolgreich abgeschlossen hatte, arbeitete er für große Filmfirmen als Drehbuchautor. Für sein Script zum Film „Liebende Frauen“ des diese Woche verstorbenen Meisterregisseurs Ken Russell wurde er 1969 für den Oscar nominiert. Mit 35 veröffentlichte er den Roman „Schwuchteln“, den viele als beißende Satire und einige als lange pornografische Erzählung lasen. Beides geht.

„Schwuchteln“ ist die Geschichte des Drehbuchautors Fred Lemish, der sich ein Wochenende lang quer durch New York und Umgebung vögelt, obwohl er eigentlich auf der Suche nach der großen Liebe ist. Kein anderes schwules Buch hat das Publikum bis heute so gespalten wie dieses, weil Kramer nicht nur kein Blatt vor den Mund nimmt, sondern die schwule Prä-Aids-Szene in ihrer ganzen sinnesfreudigen Pracht, aber auch kompletten emotionalen Leere darstellt.

Susan Sontag, Erica Jong und viele Kritiker lobten den Roman bei Erscheinen als scharfzüngiges, stellenweise unfassbar komisches Meisterwerk. Aber viele schwule Männer nahmen es Kramer übel, dass er, wie Broadway-Legende Arthur Laurents es ausdrückte, „alle unsere Geheimnisse ausgeplaudert hat“. Sie wollten sich von Kramers Prognose, dass sie sich in Parks, Saunen, auf Klappen und den eigenen Betten „irgendwann noch mal zu Tode ficken“ würden, nicht warnen lassen. Viele dieser auch literarischen Feindschaften halten bis heute. Edmund White, einer weltweit bekanntesten amerikanischen Autoren, hat vor wenigen Jahren geschrieben, Kramer sei „eigentlich schon in den 1970ern nicht ansehnlich genug gewesen, um die Orgien, über die er in ‚Schwuchteln’ schreibt, überhaupt beurteilen zu können.“

Ein Mann predigt an der Bootsanlegestelle von Fire Island das Ende der hypersexualisierten Welt

Einen ersten Versuch, das Buch in Deutschland zu veröffentlichen, gab es schon Mitte der 1980er, doch das Projekt wurde mit Auftreten der ersten Aidsfälle hierzulande fallen gelassen. Man sollte das Buch heute nicht nur wegen seiner literarischen Qualität lesen, sondern weil Kramer sich damit unbeabsichtigt als einer der großen Propheten des 20. Jahrhunderts erwies. „Ich war bis dahin kein politischer Aktivist gewesen, sondern verbrachte meine Sommer auf Fire Island. Dabei ging es um die reine Schönheit und die golden schimmernden Jungs in den Dünen. Männer, die protestierend die Fifth Avenue heruntermarschierten, lebten in einer anderen, mir sehr fremden Welt.“

Kein anderes schwules Buch hat das Publikum bis heute so gespalten wie "Schwuchteln"
Kein anderes schwules Buch hat das Publikum bis heute so gespalten wie „Schwuchteln“

Nur zwei Jahre nach Erscheinen von „Schwuchteln“ erkrankten die ersten Freunde Kramers an einer neuen, mysteriösen Krankheit, und er fing an, schwule Männer öffentlich und in Person davor zu warnen, wahllos mit jedem Sex zu haben, der ihnen vor den Schwanz lief. Man muss sich das vorstellen: Ein Mann steht 1981 an der Bootsanlegestelle von Fire Island und predigt laut das Ende der hypersexualisierten Welt, in die alle Ankömmlinge gerade hinein wollen, und das massenhafte Sterben aller Beteiligten. Die meisten von ihnen müssen ihn für schwachsinnig gehalten haben.

Aber Larry Kramer beließ es nicht dabei, sondern lud Bekannte und Freunde in seine New Yorker Wohnung ein, damit Ärzte ihnen dort erklären konnten, wie die Erkrankungen ihrer Freunde mit der neuen rätselhaften Bedrohung zusammenhingen. Diese Männer gründeten 1982 die New Yorker Gay Men‘s Health Crisis (GMHC), eine der ersten schwulen Selbsthilfeorganisationen. Sie wurde bald die wichtigste Einrichtung, wenn es darum ging, HIV-infizierte und aidskranke Männer zu unterstützen und dafür Spenden zu sammeln. Als Ärzte 1983 schwule Männer erstmals offen davor warnten, weiterhin in Saunen und Darkrooms Sex zu haben, wollte Kramer, das der GMHC diese Botschaft so schnell und laut wie möglich weiterverbreitet und endlich von der Politik die bislang ausgebliebene Unterstützung einfordert. Weil viele anderer Meinung waren, überwarf sich Kramer mit dem GMHC.

1988 erfuhr Kramer, dass er an Hepatitis B erkrankt und selbst HIV-positiv war

Über diese ersten Jahre der Aidskrise schrieb Kramer das Theaterstück „The Normal Heart“, das 1985 in New York uraufgeführt wurde und mit über einem Jahr Laufzeit immer noch eines der meistgespielten Stücke in der amerikanischen Theatergeschichte ist. Es wurde 2011 am Broadway wiederaufgeführt und gewann in dieser Inszenierung drei Tonys. Ryan Murphy (Nip/Tuck, Glee) erwarb daraufhin die Filmrechte und plant, das Stück demnächst ins Kino zu bringen, nachdem Barbra Streisand das zuvor jahrelang vergeblich versucht hatte.

1987 war Kramer einer der Mitbegründer von ACT UP, einer Gruppe radikaler Aids-Aktivisten, die rund um den Globus Kirchen, Parlamente und Rathäuser stürmten und lautstark klare politische Forderungen stellten. Kramer veröffentlichte seine gesammelten Artikel und Aufsätze aus dieser Zeit unter dem Titel „Reports from the Holocaust“. Viele Menschen glauben, es sei zu einem großen Teil ACT UP zu verdanken, dass Aids in den USA ins öffentliche Bewusstsein gelangte und die amerikanische Regierung endlich begann, sich des Problems anzunehmen. 1988 erfuhr Kramer im Rahmen einer Operation, dass er an Hepatitis B erkrankt und selbst HIV-positiv war, was er schnell öffentlich machte.

Larry Kramer sagt immer wieder: Dass es heute Kombitherapien und in der westlichen Welt eine gut funktionierende Gesundheitsversorgung für Millionen HIV-Positiver gibt, sei die größte zivilisatorische Leistung einer diskriminierten Gruppe in der Menschheitsgeschichte. Und das stimmt wahrscheinlich auch, trotz des darin enthaltenen Selbstlobes.

Auf rund 4.000 Manuskriptseiten eine schwule Geschichte Amerikas von der Steinzeit bis in die Gegenwart

2001 meldete die Nachrichtenagentur AP, Larry Kramer sei gestorben – ein Fauxpas, über den er sich heute noch gelegentlich amüsiert. Im Frühjahr 2001 hatte er, weil er immer kränker wurde, mit dem Ordnen seiner Hinterlassenschaften begonnen. Aber Kramer starb nicht, sondern bekam im Dezember desselben Jahres als einer der ersten HIV-positiven Patienten eine neue Leber, weil seine alte von der Hepatitis stark geschädigt worden war.

Kramers Botschaft: Wir sollten uns selbst und gegenseitig so viel wie möglich lieben
Kramers Botschaft: Wir sollten uns selbst und gegenseitig so viel wie möglich lieben

Seit 1978 arbeitet Kramer an einem Text, der den unbescheidenen Titel „Das Amerikanische Volk“ trägt. Dieser spielt darauf an, dass es Kramer immer wütend macht, wenn Politiker von dem sprechen, was „das Amerikanischen Volk“ will, und Schwule dabei bewusst ausschließen. Deswegen entwirft Kramer auf rund 4.000 Manuskriptseiten eine schwule Geschichte Amerikas von der Steinzeit bis in die Gegenwart. 2012 soll das Buch in zwei Bänden nun endlich erscheinen. Bis dahin ist noch viel Zeit, „Schwuchteln“ zu lesen und Kramer so kennenzulernen.

Wenn Kramer sich etwas wünscht, klingt das heute so: „Ich wünschte, ich könnte allen Schwulen etwas begreiflich machen, von dem ich mit absoluter Sicherheit weiß, dass es wahr ist: Wir werden gehasst. Sind noch nicht genug von uns gestorben, als dass wir das endlich glauben können? 70 Millionen Aidsfälle, zusammengebraut in einem großen Kessel aus Hass. Wir scheinen nicht begreifen zu wollen, dass je sichtbarer wir werden, je mehr von uns sich outen, desto angreifbarer werden wir auch und umso mehr werden wir gehasst.“ Kramers Antwort darauf ist, dass wir uns selbst und gegenseitig so viel wie möglich lieben sollten. Recht hat er. Auch wenn das manchmal nervt.

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