magazin.hiv-Rückblick 2020: Es war nicht alles Corona
Januar
Trauer um Guido Vael: Viele Jahrzehnte hat Guido Vael auf vielen Ebenen die HIV-Community mitgestaltet. So war er nicht nur Mitbegründer der Münchner Aids-Hilfe, sondern von Anbeginn auch im Bundesverband Deutsche Aidshilfe (DAH) engagiert. Auch in der Münchner schwulen Community war Guido Vael ein maßgeblicher Aktivist, etwa als Organisator der ersten Christopher-Street-Day-Demonstration der Stadt und als Mitbegründer der Wählerinitiative Rosa Liste. Am 13. Januar stirbt das DAH-Ehrenmitglied im Alter von 72 Jahren.
Bayern wird Vorreiter in der Drogenpolitik: Als erstes Bundesland führt der Freistaat die lebensrettende Vergabe von Naloxon, einem Notfallmedikament für Opioid-Überdosierungen, dauerhaft und landesweit ein. Ausschlaggebend war die positive Bilanz eines Modellprojekts.
Februar
Rückschlag für die HIV-Impfstoff-Forschung: Die groß angelegte Studie HVTN 702, bei der man sich durch doppelte Impfungen eine stärkere und breitere Antwort des Immunsystems erhofft hat, wird aufgrund mangelnden Erfolgs abgebrochen.
Protest gegen Arbeitsbedingungen auf HIV-Schwerpunktstation: Es ist ein bislang beispielloser Vorgang: Nahezu das komplette Team einer Krankenhausstation kündigt aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen den Job. 38 Ärzt_innen und Pfleger_innen mit Schwerpunkt HIV wechseln vom Berliner Auguste-Viktoria-Klinikum (AVK) ins St.-Joseph-Krankenhaus in den benachbarten Bezirk Tempelhof, wo für das Team eigens ein neuer Bereich für Infektiologie eröffnet worden ist. Das AVK war seit Beginn der Aidskrise für eine vorbildliche Versorgung von HIV/Aids-Patient_innen weit über Deutschland hinaus bekannt, insbesondere für das vernetzte Angebot von ambulanter und stationärer Betreuung im sogenannten Schöneberger Modell.
März
Corona & Sex: Kann ich in Zeiten von SARS-CoV-2 noch sexuelle Kontakte haben? Kann ich eine Infektion mit dem Coronavirus überhaupt vermeiden? Diese Fragen stellen sich während des ersten Shutdowns im Frühjahr sehr viele Menschen. Als eine der ersten Organisationen überhaupt trägt die Deutsche Aidshilfe Informationen zu Infektionsrisiken zusammen und aktualisiert sie regelmäßig. Wichtig sind dabei auch Beispiele, welche Wege Menschen finden, um ihre Sexualität auch in der Pandemie zu leben.
Frauenkampftag: Ein Interview mit der Sexarbeiterin Fabienne Freymadl ist Auftakt zu einer Artikelreihe rund um den #Frauen*kampftag 2020. Die DAH-Redaktion stellt darin intersektionelle Perspektiven in den Fokus.
Selbsttest-Projekt S.A.M wird ausgeweitet: Schnelle, bequeme und kostengünstige Heimtests auf HIV und andere Geschlechtskrankheiten – ein Pilotprojekt der DAH mit der Münchner Aids-Hilfe hat dies ab 2018 möglich gemacht, allerdings zunächst nur in Bayern. Aufgrund der guten Resonanz wird das Programm in Kooperation mit örtlichen Aidshilfen und Checkpoints nun in weiteren Bundesländern angeboten.
IWWIT startet beim Thema trans* durch: Mit einer Online-Live-Talkrunde auf Facebook, Instagram und YouTube anlässlich des International Transgender Day of Visibility präsentiert die DAH-Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU ihre neue Broschüre „Schwul. Trans*. Teil der Szene!“. Sie bietet schwulen trans* und cis Männern, gender-nonconforming und nicht-binären Menschen, die sich der schwulen Community zugehörig fühlen, unter anderem Infos zum respektvollen Umgang innerhalb der Szene, zu schwulem Sex und Schutz vor HIV.
April
Erleichterungen bei der Substitution: Für viele Drogenabhängige hat sich die Lebenssituation durch die Corona-Pandemie deutlich verschlechtert. Viele von ihnen haben Grunderkrankungen und ein geschwächtes Immunsystem, sind also besonders gefährdet. Der Gesetzgeber erleichtert deshalb die Verschreibung und Abgabe von Substitutionsmitteln vorübergehend und ermöglicht sie auch für bisher nicht Substituierte.
So können nun unter anderem Substitutionsärzt_innen mehr Patient_innen betreuen und die Take-Home-Vergabe wird vereinfacht. Apotheken dürfen das Medikament mit Bot_innen direkt an die Patient_innen liefern lassen, wo es dann unter Sicht eingenommen wird. Auf diese Weise kann die Substitution auch in häuslicher Isolation oder Quarantäne gesichert werden.
Medizinische Versorgung für alle: Angesichts der Corona-Pandemie fordern Medibüros und Medinetze in einem Offenen Brief, alle unversicherten Menschen – unabhängig vom Aufenthaltsstatus – sofort und dauerhaft in das reguläre gesetzliche Krankenversicherungssystem einzugliedern und die Übermittlungspflicht an Ausländerbehörden abzuschaffen.
Hunderttausende Menschen in Deutschland haben nämlich keine Möglichkeit, sich auf das Coronavirus testen und gegebenenfalls behandeln zu lassen oder in Quarantäne zu gehen. Zu den Unterzeichnern gehören zahlreiche Flüchtlingsräte sowie andere Einrichtungen und Organisationen, darunter auch die DAH.
Mai
Corona im Gefängnis: Die Deutsche Aidshilfe fordert angesichts der besonderen Risiken und Härten im Strafvollzug, für den notwendigen Schutz von Inhaftierten wie Justizbediensteten zu sorgen und die medizinische Versorgung zu gewährleisten.
#WirFürQueer: Auch die queere Szene ist von der Coronavirus-Pandemie betroffen, etwa durch Einsamkeit in der Isolation, fehlende geschützte Räume oder durch finanzielle Schwierigkeiten. Mit der Initiative #WirFürQueer engagiert sich die DAH-Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU für die Community und ruft zu Solidarität und gemeinsamer Unterstützung auf – unter anderem bei einem mehrstündigen Online-Soli-Event, live gestreamt aus dem Berliner SchwuZ.
Trauer um Larry Kramer: Als Drehbuchautor, Romancier („Schwuchteln“) und Dramatiker („The Normal Heart“) war er international erfolgreich. Noch einflussreicher aber war er als Aktivist: als Mahner der schwulen Community, als Mitgründer der Gay Men’s Health Crisis – der ersten HIV-Hilfsorganisation –, als Mitstreiter im Aktivismus-Kollektiv ACT UP wie auch als streitbarer Kritiker der HIV-Bewegung. Am 27. Mai stirbt Larry Kramer im Alter von 84 Jahren in New York City.
Juni
BlackLivesMatter: Der gewaltsame Tod von George Floyd in Minneapolis bei einem Polizeieinsatz führt weltweit zu Protesten, denn Rassismus und rassistische Gewalt gibt es überall, auch in Deutschland. Darauf weist die DAH in einem Statement deutlich hin: „Rassismus und Polizeigewalt sind auch für einen Großteil unserer Communitys und Klient_innen täglich brutale Realität – sei es im Bereich der Sexarbeit, Haft, Suchthilfe oder im Kontext von HIV.“
Was dies ganz konkret bedeutet, schildert Lillian Kababiito vom Netzwerk AfroLebenPlus, dem bundesweiten Zusammenschluss von HIV-positiven Migrant_innen, eindrücklich in einem Gastbeitrag. Ahmed Awadalla, der bei der Berliner Aids-Hilfe unter anderem in der Beratung und Präventionsarbeit für Migrant_innen tätig ist, teilt in einem weiteren Beitrag seine persönlichen Erfahrungen mit (antimuslimischem) Rassismus.
Internationaler Hurentag: Weil Sexarbeiter_innen aufgrund der Corona-Krise ihrer Tätigkeit nicht nachgehen dürfen, befinden sich viele von ihnen in existenzieller Not. Die DAH fordert deshalb politisch Verantwortliche in Bund, Ländern und Kommunen auf, Gleichbehandlung und Unterstützung in der Krise sicherzustellen, etwa durch unbürokratische Soforthilfefonds zur Absicherung des Lebensunterhalts sowie sichere Unterkünfte und Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung.
Zahlreiche Verbände und Fachberatungsstellen unterzeichnen den Appell. Auf die Forderung, bei Lockerungen der Corona-Maßnahmen Sexarbeit nicht anders zu behandeln als vergleichbare körpernahe Dienstleistungen, reagiert zunächst nur Berlin. Als erstes Bundesland wird dort im August das Verbot von Sexarbeit wieder aufgehoben. Ab September dürfen dann auch Bordelle in anderen Bundesländern, wie in Berlin unter strengen Auflagen, wieder öffnen.
Die Mitmach-Kampagne #wissenverdoppeln erreicht ein Etappenziel: Rund 18 Prozent der Menschen in Deutschland wissen mittlerweile, dass HIV unter Therapie nicht mehr übertragbar ist – und damit fast doppelt so viele wie noch im Herbst 2017. Die telefonische Bevölkerungsumfrage im Auftrag der DAH zeigt allerdings auch weiterhin große Wissenslücken und Vorurteile.
Juli
Das Modellprojekt „HIV? Hepatitis? Das CHECK ich!“ hat sich bewährt: Die Auswertung des in sechs Drogenhilfeeinrichtungen durchgeführten Projekts zeigt, dass niedrigschwellige Angebote zu Beratung und Tests rund um HIV und Hepatitis sowohl die Prävention wie auch Behandlung dieser Infektionskrankheiten bei Drogengebraucher_innen deutlich fördern können.
August
„100.000 Substituierte bis 2022“: Mit einem klar formulierten Ziel startet am 31. August, dem International Overdose Awareness Day, eine Kampagne der Deutschen Aidshilfe, des akzept-Bundesverbands und des Selbsthilfenetzwerks JES. Gemeinsam mit Drogenhilfeeinrichtungen, Kommunen und Ärzt_innen, aber auch mit der Unterstützung der Politik sollen die Subsitutionsangebote in Deutschland gestärkt und ausgebaut werden, wie es in anderen europäischen Ländern längst Standard ist. Im November schließt sich dieser Initiative auch die Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Daniela Ludwig, an.
September
Gründung eines unabhängigen Positiven-Netzwerks: Zehn HIV-Selbsthilfe-Netzwerke und -Projekte aus ganz Deutschland schließen sich im Verein AktHIV.de zusammen, um künftig die Interessen von Menschen mit HIV bundesweit zu vertreten. Zu dem neuen Verbund gehören unter anderem pro plus berlin e.V., PRO+ Niedersachsen, das Netzwerk Frauen & Aids sowie der Blog „Mein Neues Leben“.
Rauschgiftlagebericht: Seit nunmehr neun Jahren nimmt die Zahl der polizeilich registrierten Rauschgiftdelikte zu. Trotz aller Bemühungen der Strafverfolgungsbehörden steigen die Verfügbarkeit von Betäubungsmitteln und die Nachfrage nach ihnen. „Die Repression ist gescheitert“, kommentiert DAH-Vorstand Björn Beck den gemeinsam vom Bundeskriminalamt und der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vorgestellten Bericht für 2019. Die Kriminalisierung von Drogenkonsument_innen führt zu hohen Kosten und menschlichen wie gesellschaftlichen Schäden: Im Berichtsjahr sind 1.398 Menschen infolge des Drogenkonsums gestorben.
Trauer um Timothy Ray Brown: Er war der erste Mensch, der von HIV geheilt werden konnte, und wurde so zum Hoffnungsträger für die HIV-Community. Auf seinen Tod infolge einer Leukämie reagieren Menschen auf der ganzen Welt mit Trauer und zeigen sich dankbar für sein Engagement. Kurz vor seinem Tod hat der HIV/Aids-Aktivist und Blogger Mark S. King mit Timothy Ray Brown und seinem Mann Tim sprechen und eine Botschaft von Timothy an die Community weitergeben können.
Oktober
Neue Leitlinien: Die „Deutsch-Österreichischen Leitlinien zur HIV-Therapie in der Schwangerschaft und bei HIV-exponierten Neugeborenen“ werden nach grundlegender Überarbeitung veröffentlicht. Eine der wichtigsten Veränderungen: Stillen ist möglich. Frauen mit HIV sollten frühzeitig und ergebnisoffen mit ihren Ärzt_innen über die Vor- und Nachteile des Stillens sprechen und dann gemeinsam mit dem medizinischen Team entscheiden.
HIV/Aids-Basisinfos jetzt auch in Leichter Sprache: Auf www.aidshilfe.de finden Menschen, die Schwierigkeiten beim Lesen von längeren oder komplexen Texten haben, nun fundierte Basisinformationen in einer einfach zu verstehenden Sprache, so etwa zum HIV-Test, zum Leben mit HIV oder zu Safer Use. Die Webseite www.leichte-sprache.aidshilfe.de ist Teil des barrierefreien Online-Angebots der DAH, das in den letzten Jahren kontinuierlich erweitert wurde.
November
„positive stimmen 2.0“: Menschen mit HIV können heute gut mit ihrer Infektion leben, machen aber immer noch zahlreiche Diskriminierungserfahrungen. Das belegen erste Zahlen des gemeinsamen Forschungsprojekts des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) und der DAH. Ein Großteil der fast 1000 Teilnehmenden der Online-Befragung ist im Alltag weiterhin mit Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert.
Zukunftspapier: Die DAH will sich noch stärker gesellschaftlich und politisch engagieren und ihr Know-how aus fast 40 Jahren HIV-Prävention auch für andere Themen fruchtbar machen. Das auf der Mitgliederversammlung beschlossene Zukunftspapier „Aufs Ganze sehen – Gesundheit möglich machen“ betont die Bedeutung sozialer Verhältnisse für das individuelle Wohlergehen und definiert Aufgaben für die Weiterentwicklung des Verbands.
HIV-Prophylaxe PrEP für Frauen: Die Zwei-Monats-Spritze mit Cabotegravir kann HIV-Infektionen bei Frauen wirksam verhindern – wirksamer als ein täglich eingenommenes PrEP-Medikament mit Tenofovir und Emtricitabin. Dies zeigt die Zwischenauswertung einer Studie des HIV Prevention Trials Network (HPTN 084). Die Depot-Spritze erweitert nicht nur die Auswahlmöglichkeiten bei den Präventionsmitteln, sondern hat nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation WHO großes Potenzial, weil die erforderliche Einnahmetreue bei langfristigem Gebrauch leichter zu gewährleisten sei als bei täglicher Einnahme.
Dezember
#positivarbeiten: Über 100 Arbeitgeber_innen haben mittlerweile die Deklaration gegen Diskriminierung von Menschen mit HIV im Arbeitsleben unterzeichnet. Neu dabei sind unter anderem die Bundesärztekammer, die Bundeszahnärztekammer, der Deutsche Pflegerat, die Bundesministerien für Gesundheit, für Verteidigung und für Arbeit und Soziales sowie Siemens, VW und Continental Reifen.
Alle Unterzeichnenden verpflichten sich, aktiv für Respekt und Selbstverständlichkeit in der täglichen Zusammenarbeit mit HIV-positiven Kolleg_innen einzutreten und bei betrieblichen medizinischen Untersuchungen auf HIV-Tests zu verzichten. Anlässlich des Welt-Aids-Tags startet die Initiative der DAH auch in den USA, Kanada, Österreich und Tschechien.
Welt-AIDS-Tag: Unter dem Kampagnenmotto „Leben mit HIV – anders als du denkst“ zeigen Menschen mit HIV Gesicht und geben Einblick in ihren Lebensalltag. Die Gemeinschaftsaktion der DAH, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und der Deutschen AIDS-Stiftung soll dazu beitragen, Berührungsängsten, Ablehnung und Diskriminierung entgegenzuwirken.
Trauer um Gaby Lenz: Sie hat sich jahrzehntelang in der Aids- und Selbsthilfe und dort in den unterschiedlichsten Feldern engagiert – so war sie unter anderem Fachbeirätin in der Gemeinnützigen Stiftung Sexualität und Gesundheit (GSSG), Redakteurin von DHIVA, dem Magazin für Frauen zu Sexualität und Gesundheit, und nicht zuletzt Geschäftsführerin AIDS-Hilfe Baden-Württemberg.
Mit ihrer Beharrlichkeit hat sie dazu beigetragen, dass Aidshilfe heute auch ein Platz für Frauen und streitbar, vielfältig und stark ist. Für ihr Engagement wurde ihr 2012 – als einer der jüngsten Frau in Baden-Württemberg – das Bundesverdienstkreuz verliehen, 2020 wurde sie zum DAH-Ehrenmitglied ernannt. Nun ist sie 58-jährig an einer Tumorerkrankung verstorben.
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