Wie wirken sich Rechtssysteme auf Menschen mit HIV und Aids aus? Dieser Frage geht der 1963 geborene britische Rechtswissenschaftler und Autor Matthew Weait in seinen Forschungen nach. Seinen Artikel Swedens Approach to HIV Criminalisation, den er für das schwedische Online-Magazin Newsmill verfasste, hat Ulrike Seith ins Deutsche übersetzt. Wir danken dem Autor für die Genehmigung, seinen Beitrag zu veröffentlichen:

Schweden wiegt sich in Sicherheit – auf Kosten von Menschen mit HIV (Foto: Ilka Plassmeier/pixelio.de)

Ein Horrorfilm aus dem Jahr 1992 trägt den Titel „Die Hand an der Wiege“ (im Original: „The Hand that Rocks the Cradle“). Im Zentrum der Handlung steht der Rachefeldzug einer jungen Witwe. Sie hat sich bei einer Frau, die sie für den Suizid ihres Mannes und ihre daraufhin erlittene Fehlgeburt verantwortlich macht, als Kindermädchen eingenistet. Der Titel passt gut zum Film, weil er Sicherheit und Geborgenheit suggeriert, während das Gegenteil der Fall ist. Nichts ist verstörender, als zu entdecken, dass ausgerechnet von der Person, in die man sein Vertrauen gesetzt hat, in Wirklichkeit Gefahr ausgeht und sie demjenigen schaden will, der einem am meisten bedeutet.

Ich habe Schweden und seine Nachbarländer für eine Art Paradies gehalten

Schweden wiegt seine Kinder in einer Wiege, die über hundert Jahre alt ist – geschnitzt aus dem warmen, weichen Holz der Sozialdemokratie. Und für die meisten Kinder ist diese Wiege ein sehr sicherer Ort. Viele sind darin eingeschlafen und finden die gleichförmige Bewegung so angenehm, dass sie eigentlich gar nicht aufwachen möchten (was dem Kindermädchen gerade recht ist). Für einige Kinder allerdings sieht es ganz anders aus. Wehe denen, die nicht alle Geschichten glauben wollen, die das Kindermädchen erzählt, oder deren Verhalten es als ein schlechtes Beispiel für andere ansieht. Nicht, dass das Kindermädchen grausam sein möchte, aber es weiß, was das Beste für seine Zöglinge ist. Seine Toleranz gegenüber jenen, die all die Arbeit gefährden könnten, die es in die Erziehung guter, gehorsamer Kinder investiert hat, hält sich in Grenzen, und fast jedes Mittel ist ihm recht, um die Schlechten auf ihre Fehler aufmerksam zu machen und in ihre Schranken zu weisen. Autoritäre Erziehung ist sein Credo.

Nur ein Teil der schwedischen Wirklichkeit (Foto: Katrin Krähenbühl/ pixelio.de)

Manche Leser mag diese Metapher schockieren. Das ist durchaus beabsichtigt. Wie viele meiner Zeitgenossen in Ländern mit weniger wohlfahrtsorientierten und stärker liberal-konservativ geprägten politischen Traditionen habe ich Schweden und seine Nachbarländer noch bis vor Kurzem für eine Art Paradies gehalten – ein gelobtes Land, in dem niemand jemals zu reich und niemand zu arm sein wird, wo der Vertrag zwischen Staat und Bürgern Sicherheit und Unterstützung für alle gewährleistet, unabhängig von den Nachteilen und Unglücksfällen, von denen die Einzelnen betroffen sind.

Schweden kriminalisiert mehr HIV-Positive als andere Länder Europas

Meine Forschungsarbeit zu Schwedens Reaktion auf Menschen mit HIV hat jedoch gezeigt, dass dieses – in vieler Hinsicht zutreffende – Image nur einen Teil der Wirklichkeit wiedergibt. Schweden hat seit Beginn der Epidemie nicht nur über hundert Personen unter Anwendung der dortigen Gesetze zu übertragbaren Krankheiten inhaftiert (wofür es in einem Fall vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wurde), sondern es kriminalisiert auch einen höheren Prozentsatz mit HIV lebender Menschen als alle anderen Länder Europas – und dies nicht nur bei einer absichtlichen, sondern auch einer unbeabsichtigten HIV-Übertragung oder einer Exposition (bei der kein HIV übertragen wurde). Kriminalisiert werden dabei nur diejenigen, die ihren HIV-Status kennen, obwohl die meisten Neuinfektionen von nicht diagnostizierten Personen ausgehen. Ignoriert wird außerdem, dass bei erfolgreich behandelten HIV-Positiven mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze praktisch kein Risiko einer sexuellen Übertragung mehr besteht. Schweden kriminalisiert diese Menschen, obwohl HIV ein Problem der öffentlichen Gesundheit ist, obwohl jeglicher Nachweis fehlt, dass die Kriminalisierung einen Nutzen für die öffentliche Gesundheit brächte, und obwohl die Schlagzeilen der Sensationspresse zu Geschichten über HIV-Fälle zur Stigmatisierung aller Menschen mit HIV beitragen und die Stigmatisierung verstärken.

Warum macht Schweden all das, entgegen der von UNAIDS (dem gemeinsamen HIV/Aids-Programm der Vereinten Nationen) herausgegebenen Leitlinien?

HIV wird kriminalisiert, weil es auf sehr elementarer Ebene bedroht, was „schwedisch“ ist

Ich bin fest davon überzeugt: Schwedens aus Zwangs- und Strafmaßnahmen bestehende Reaktion auf HIV resultiert – paradoxerweise – genau aus Werten, die im Laufe des vergangenen Jahrhunderts so stark im Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung verankert wurden, dass alles und jeder, der sie bedroht, als gefährliche „Verunreinigung“ wahrgenommen und einer entsprechenden Behandlung unterzogen wird. Es ist genau wie im Umgang mit Sexarbeit (bereits der Begriff wird abgelehnt), wo man alle Sexarbeiter/innen als Opfer und alle Männer als abartige Verbrecher behandelt, oder wie in der Drogenpolitik, wo man der Schadensminderung trotz ihrer Wirksamkeit misstraut, weil damit Toleranz gegenüber etwas Schmutzigem und Gefährlichem assoziiert wird: HIV wird deshalb kriminalisiert, weil es auf sehr elementarer Ebene bedroht, was „schwedisch“ ist. HIV ist nicht sauber. HIV ist nicht gesund. HIV ist nicht normal. Solange man HIV auf Männer, die Sex mit Männern haben, auf Drogen Gebrauchende und Migranten begrenzen kann – und solange all jene, die keiner dieser Gruppen angehören, das Virus als auf diese Gruppen beschränkt wahrnehmen können –, lässt sich das schwedische Selbstbild eines Landes, das sich aufklärerischen, fortschrittlichen Werten verschrieben hat, aufrechterhalten. Und weil das so wichtig ist, erscheint jede Maßnahme tragbar, wie repressiv, unlogisch oder fehlgeleitet sie auch sein mag.

HIV – eine Gefahr fürs Selbstbild (Foto: Anna-Lena Ramm/ pixelio.de)

Seit März 2012 hat Schweden mit Ulla Andrén eine neue Botschafterin im Königreich Swasiland. Bei der Vorlage ihres Beglaubigungsschreibens vor dem König betonte Andrén, wie wichtig auch weiterhin die „Arbeit gegen die HIV/Aids-Pandemie“ in diesem Land sei. Swasiland hat die höchste HIV-Prävalenz weltweit, mehr als jeder Vierte lebt mit dem Virus (ca. 200 000 Menschen). In Anbetracht des leidenschaftlichen „Engagements“, das Schweden zu Hause bei der Bestrafung von Menschen mit HIV gezeigt hat, und in Anbetracht seines Festhaltens am Nutzen dieser Bestrafung wäre es nur logisch, wenn Schweden Swasiland seine HIV/Aids-Politik empfähle. Nur wäre das keine gute Empfehlung, und Schweden würde sie auch nie aussprechen. Doch ein schwerwiegendes Problem ist: Wenn es falsch wäre, die Kriminalisierung HIV-Positiver in Swasiland zu empfehlen, wo die HIV-Infektion für viele noch immer eine gefährliche und tödliche Krankheit ist, warum ist es dann in Ordnung, Menschen mit HIV zu Hause zu kriminalisieren, wo man mit diagnostizierter Infektion doch ein langes und ansonsten gesundes Leben führen kann?

Wir wissen alle, warum die Kinder gerne in der Wiege des Kindermädchens Schweden schlafen. Doch es könnte interessant – und befreiend – für sie sein, aufzuwachen und das Kindermädchen ein bisschen zu provozieren…

 

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