HIV-Prävention

HIV-PrEP in Russland: Wie ist der Stand?

Von Gastbeitrag
Bild zum Beitrag zur Finanzierung der HIV-PrEP durch die privaten Krankenkassen
HIV breitet sich in der Russischen Föderation rasant aus, doch die rigide öffentliche Moral erschwert die Prävention. Immerhin soll nun möglicherweise die HIV-PrEP in Russland erprobt werden.

Von Alexander Delphinov

UNAIDS geht davon aus, dass 2017 rund eine Million Menschen mit HIV in Russland lebten und dass es 100.000 HIV-Neuinfektionen gab.

Doch nur ein kleiner Teil der Menschen mit HIV hat Zugang zu den lebensrettenden HIV-Medikamenten, und viele Menschen mit HIV wissen gar nicht, dass sie infiziert sind.

HIV verbreitet sich unterdessen beinahe ungebremst, während viele NGOs, die Präventionsprogramme ohne staatliche finanzielle oder logistische Hilfe durchführen, vom Staat behindert werden.

Als beste „Präventionsmethode“ sehen viele selbsternannte Expert_innen „traditionelle russische Werte“ wie zum Beispiel konservative Religiosität mit dem „Kein-Sex-ohne-Ehe“-Prinzip an.

Ein Pilotprojekt soll testen, ob die HIV-PrEP in Russland funktioniert

Immerhin diskutieren nun auch in Russland HIV-Spezialist_innen und Beamt_innen über die Einführung der HIV-Prä-Expositions-Prophylaxe, kurz PrEP.

„Wir haben eine kleinere Summe für ein Pilotprojekt bekommen, um zu sehen, ob die PrEP unter den Bedingungen in Russland funktioniert“, erklärte der Leiter des russischen Aids-Zentrums Wadim Pokrowskij im Juli 2018 gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax.

Pokrowskij zufolge hat die Regierung 400 Millionen Rubel für die HIV-Prävention zur Verfügung gestellt (Anm. der Red.: heute rund 5,5 Millionen Euro), allerdings sei der größte Teil für eine Befragung der Bevölkerung und HIV-Tests vorgesehen.

Auch Grigory Kaminsky vom Nationalen Forschungszentrums für Pneumologie und Infektionskrankheiten des russischen Gesundheitsministeriums bestätigte im August 2018 gegenüber Sibmedia, dass ein PrEP-Pilotprojekt entwickelt werde.

HIV-Spezialist Evgeny Voronin, ebenfalls für das Gesundheitsministerium tätig, erklärte im August 2018 gegenüber der russischen Aids-Stiftung, ein PrEP-Pilotprojekt sei in Tscheljabinsk am Ural geplant – in erster Linie für Männer, die Sex mit Männern haben (MSM).

Dazu passt auch eine im November 2018 auf der Webseite der Öffentlichen Kammer der Region Tscheljabinsk veröffentliche Nachricht, wonach die PrEP-Medikamente kostenlos beim regionalen Zentrum für Aids-Prävention und -Kontrolle zu bekommen seien.

Interview mit Evgeny Pisemsky zur HIV-PrEP in Russland

Doch wie geht es weiter? Wir haben mit Evgeny Pisemsky von der HIV/Aids-NGO „Phoenix Plus“ gesprochen. Er ist überzeugt, dass es in Russland schon bald einen Durchbruch in Sachen PrEP geben wird.

Seines Wissens werde das PrEP-Programm vom Gesundheitsministerium in die Richtlinien zur HIV-Prävention in den Schlüsselgruppen aufgenommen. „Phoenix Plus“ selbst wolle eine PrEP-Aufklärungskampagne in verschiedenen Regionen Russlands durchführen.

Herr Pisemsky, wie passt diese staatliche Unterstützung für die PrEP mit der homo- und transphoben Politik in der Russischen Föderation zusammen?

Erstens wird die PrEP nicht nur für schwule, bisexuelle und trans* Menschen eingesetzt, sondern für alle Schlüsselgruppen und allgemein für alle Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen keine Kondome benutzen – auch wenn die PrEP in den vom Gesundheitsministerium vorbereiteten Richtlinien erst einmal nur für MSM empfohlen wird.

Zweitens kann man zumindest dem russischen Gesundheitsministerium keine homophobe Politik nachsagen, jedenfalls kenne ich keine offiziellen Aussagen des Ministeriums in diese Richtung.

HIV-Medikamente für Nichtinfizierte, wenn es nicht genügend Medikamente für alle HIV-Infizierten gibt?

Es gibt aber ein anderes Problem. 2018 wurde heftig darüber diskutiert, warum wir denn HIV-Medikamente für Nichtinfizierte bereitstellen wollen, wenn es noch nicht mal genügend Medikamente für alle Menschen mit HIV gibt.

Dazu ist anzumerken: Wenn wir jetzt nicht in die PrEP investieren, wird das Geld später niemals für HIV-Medikamente für alle Menschen mit HIV ausreichen.

Es ist immer günstiger, eine HIV-Infektion zu verhindern, als sie später zu behandeln.

Steht in der Russischen Föderation nur das Originalmedikament Truvada zur Verfügung, oder sind auch günstigere Generika erhältlich?

Offiziell ist nur Truvada zugelassen. Das Medikament ist ziemlich teuer, die Preise schwanken zwischen 12.000 und 16.000 Tausend Rubel (etwa 160 bis 220 Euro) für eine Monatsration bei täglicher Einnahme.

Truvada ist in Russland bis 2020 durch ein Patent geschützt, offiziell darf man also keine Generika benutzen. Aber auf dem grauen Markt sind Generika für etwa 35 Euro pro Monatspackung zu bekommen.

Außerdem gibt es da die russische Firma Pharmsynthez, die beide Wirkstoffe des PrEP-Medikaments – Tenofovir und Emtricitabin – als Einzelsubstanzen produziert.

Die PrEP funktioniert auch mit zwei Einzeltabletten

Natürlich ist es praktischer, die PrEP mit nur einer Tablette zu verwenden, aber es geht auch mit zwei Tabletten, und so ein Schema wäre in Russland für etwa 1000 bis 1200 Rubel (13–16 Euro) pro Monat verfügbar. Das entspricht etwa dem Preis für eine 12er-Packung Kondome.

Laut dem Key Population Atlas verwenden nur 0,9% der russischen schwulen und bisexuellen Männer die PrEP. Was ist der Grund dafür?

In der Tat nutzen noch sehr wenig Leute in Russland die PrEP.

2018 hat „Phoenix Plus“ eine Online-Befragung mit etwa 650 Teilnehmern durchgeführt. Wir haben gefragt, was die Leute über die PrEP wissen, ob sie die PrEP nutzen möchten und ob sie bereit wären, die Medikamente selbst zu bezahlen, oder ob der Staat die Kosten übernehmen sollte.

Rund 50 Prozent der Befragten hatten keine Ahnung, was die PrEP ist. Die anderen 50 hatten von der PrEP gehört, wussten aber kaum etwas darüber.

Wir haben auch gefragt, ob sie an einem Pilotprojekt teilnehmen würden oder nicht.

Viele aus der schwulen Community haben noch nichts von der PrEP gehört

Und die Hälfte der Befragten, vor allem aus Moskau, St. Petersburg, Nowosibirsk und Jekaterinburg, das heißt aus Großstädten, haben ihre Kontaktdaten angegeben, was auf ein großes Interesse der Community an der PrEP-Nutzung hindeutet.

Im Moment arbeiten wir an einer Webseite, auf der alle wichtigen Infos rund um die PrEP auf Russisch zu finden sein sollen.

Aber neben dem geringen Bekanntheitsgrad der PrEP gibt es vor allem rechtliche Schwierigkeiten.

In Russland gibt es derzeit keine Möglichkeit, HIV-negativen Menschen HIV-Medikamente für die PrEP zu verschreiben.

Für HIV-Medikamente aber braucht man ein Rezept – nur: wer soll ein Rezept ausstellen, wenn es dafür kein Protokoll gibt?

Das ist das Erste, was geändert werden muss, um die PrEP verfügbar zu machen. Wir denken selbst darüber nach, ein Pilotprojekt in der der Russischen Föderation durchzuführen.

Bis jetzt gibt es noch kein Pilotprojekt in Russland?

Vor kurzem habe ich Herrn Voronin in Berlin getroffen, der ja für das Gesundheitsministerium arbeitet.

Ich habe ihm unsere Daten zum PrEP-Bedarf der Community gezeigt, und er meinte, wir sollten uns im März 2019 wieder treffen, weil dann eine Stadt für ein Pilotprojekt ausgewählt werden solle.

Für uns ist auf jeden Fall wichtig, dass die Ziele und Indikatoren eines solchen Projekts klar definiert sind und dass klar ist, für wen die PrEP verschrieben werden soll.

Eigentlich ist alles fertig für ein PrEP-Pilotprojekt

Außerdem habe ich als Mitglied der Eurasischen Koalition für Männergesundheit (ECOM) dort um Unterstützung gebeten, denn die EKOM kann zum Beispiel bei der Entwicklung der Verschreibungsprotokolle mithelfen.

Wir sind gerade dabei, eine Informationskampagne vorzubereiten.

Es ist eigentlich alles fertig, um ein gutes Pilotprojekt zu starten.

Und selbst wenn die Regierung die PrEP-Kosten nicht übernimmt, können sich die meisten Menschen eine Zwei-Pillen-PrEP mit russischen Medikamenten leisten.

Können Unterbrechungen der Versorgung mit HIV-Medikamenten, von denen in Russland immer wieder zu hören ist, die Wirksamkeit der PrEP beeinträchtigen?

Wenn jemand im Augenblick die PrEP nutzt, kauft er seine Medikamente auf dem grauen Markt.

Und wenn wir morgen eine Aufklärungskampagne starten und den Menschen erzählen, wo sie die Pillen kaufen können, wo man eine Beratung bei einem freundlichen Spezialisten bekommen kann, würde der Markt blitzschnell reagieren.

Ich bin mir sicher, dass der Markt die Verfügbarkeit solcher Medikamente auf Dauer gewährleistet.

Wie steht Russland im Vergleich zu anderen Ländern der ehemaligen UdSSR in Bezug auf die PrEP da?

Russland kommt zu spät.

Ich freue mich sehr für unsere Kolleg_innen in Georgien, dort ist die erste Phase eines Pilotprojekts vorbei und die PrEP wird schon eingesetzt.

Auch die Ukrainer sind sehr erfolgreich, sie haben ein Pilotprojekt in Kiew mit etwa 100 Teilnehmern abgeschlossen. Die Möglichkeit für MSM, die PrEP kostenlos zu nutzen, wird nun ausgeweitet, mehr als 2.000 Menschen können derzeit in der Ukraine die PrEP nutzen.

In Moskau möchte nun Maxim Malyshev, Koordinator für Straßensozialarbeit bei der Andrey-Rylkov-Stiftung, ein PrEP-Pilotprojekt auf die Beine stellen, um die Aufklärungsarbeit über diese Präventionsmethode in der schwulen Community zu stärken.

Russland kommt bei der HIV-PrEP zu spät

Ihm zufolge wissen noch viel zu wenige über die PrEP Bescheid. „Kommst du darüber ins Gespräch, verstehen die Leute einfach nicht, wofür sie Pillen schlucken sollen“, so Malyshev.

Die Stiftung engagiert sich derzeit auch im Bereich Chemsex und will eine Info-Broschüre dazu herausbringen. Die PrEP soll dort als eine wichtige HIV-Präventionsmethode erwähnt werden.

Das ist auch sehr wichtig.

Neulich zum Beispiel haben wir auf einer Techno-Party für Schwule in einem Moskauer Club HIV-Tests angeboten. Dabei kam ich mit einem jungen Mann über die HIV-Übertragungswege und HIV-Risiken ins Gespräch.

Er meinte, er wisse das alles, möge aber nun mal keine Kondome. Deswegen habe er ab und zu Sex ohne Kondome – aber nur mit „sicheren“ Partnern.

So oder so ähnlich machen das viele. Und genau für solche Menschen wäre die PrEP das Richtige.

P. S. Bei seiner Arbeit in Moskau hat Maxim Malyshev noch niemanden getroffen, der die PrEP jetzt schon nutzt. Und wie sieht es in Russland mit der PrEP für Frauen aus oder für Paare, bei denen ein HIV-negativ ist und der andere HIV-positiv, aber keine Medikamente nimmt? Auch diese Geschichten sind noch zu schreiben…

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