Das war unser 2021: Jubiläen, Meilensteine und wegweisende Entwicklungen
Auch im zurückliegenden Jahr hat die Covid-19-Pandemie maßgeblich unser Leben bestimmt. Doch es gab auch darüber hinaus Ereignisse, Entwicklungen und Debatten, die uns bewegt und beschäftigt haben. Ein Rückblick der magazin.hiv-Redaktion.
Januar
Elektronische Patient*innenakte: Eigentlich ist sie eine gute Idee, soll die elektronische Patient*innenakte doch den Datenaustausch zwischen Ärzt*innenpraxen, Apotheken, Kliniken und den Patient*innen und damit die Behandlung verbessern. Doch bei der Einführung ist das digitale Prestigeprojekt des Gesundheitsministeriums alles andere als ausgereift und es bleiben offene Fragen zum Datenschutz.
„2025 AIDS Targets“: Die internationalen Anstrengungen waren groß, aber reichten letztlich nicht aus. Die von UNAIDS bis 2020 gesetzten 90-90-90-Ziele wurden deutlich verfehlt. Um dennoch Aids bis 2030 zu beenden, hat UNAIDS nun neue Zwischenziele bis 2025 formuliert. Künftig sollen besonders von HIV und Aids bedrohte und betroffene Schlüsselgruppen und der Abbau von Ungleichheit im Mittelpunkt der HIV-Prävention stehen.
Februar
Der neue Substitutionsbericht birgt eine gute und eine alarmierende Nachricht: Die Zahl der Opioidabhängigen, die eine Substitution begonnen haben, ist im Vorjahr deutlich gestiegen. Die Zahl der substituierenden Ärzt*innen jedoch ist auf einen historischen Tiefstand gesunken.
„Grundgesetz für alle“: Über 100 Organisationen und prominente Erstunterzeichner*innen fordern mit der Kampagne „Grundgesetz für alle“ den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität in Artikel 3 des Grundgesetzes aufzunehmen. Ihr Appell, durch eine Ergänzung „alle Menschen der queeren Community in ihrer ganzen Bandbreite“ zu schützen, richtet sich insbesondere an die Abgeordneten und Fraktionen des Deutschen Bundestags.
März
Gesellschaftliche Aspekte der Corona-Pandemie: Lockdowns und andere Präventionsmaßnahmen, aber auch die Impfkampagnen haben 2021 unser aller Leben bestimmt und immer wieder auch Debatten ausgelöst. Auf magazin.hiv wurden in einer Essay- und Interviewreihe einige, viel zu wenig diskutierte Aspekte in den Fokus gerückt. Zum Beispiel die Frage, warum die jahrzehntelangen Erfahrungen aus der HIV-Prävention nicht für Covid-19-Kampagnen genutzt wurden.
Und welche Verpflichtung haben wir, uns für mehr globale Solidarität und damit bei der Verteilung des Covid-19-Impfstoffes für ärmere Staaten einzusetzen?
Und wie kann, aus linker Perspektive betrachtet, Solidarität in Zeiten von Corona aussehen – mit sozial Marginalisierten in Deutschland wie mit den Ländern des globalen Südens?
April
Diskriminierungssensible Sprache: In der Beratung zu HIV, beim Formulieren von Präventionsbotschaften und für Info-Materialien zu Aids gilt, wie überall, achtsam in der Wortwahl zu sein. Denn Respekt und Wertschätzung können sich auch in der verwendeten Sprache zeigen. Ein von der DAH entwickelter „Leitfaden diskriminierungssensible Sprache in Aids- und Selbsthilfe“ gibt leicht verständliche Anregungen und konkrete Beispiele.
„Selbstverständlich positiv“ ist der Titel der neuen DAH-Kampagne von und für Menschen mit HIV. Mit Flyern, Plakaten, Social-Media-Aktionen und Diskussionsveranstaltungen soll zu einem offenen, entspannten und selbstbewussten Leben mit HIV ermutigt und damit zugleich Diskriminierung entgegengewirkt werden.
Mai
Depotspritzen statt täglicher Tabletten: In Deutschland kommt mit Vocabria und Rekambys die erste injizierbare HIV-Therapie auf den Markt. Damit steht erstmals eine HIV-Therapie zur Verfügung, bei der nicht mehr Pillen eingenommen werden müssen, sondern stattdessen die beiden Wirkstoffe Cabotegravir und Rilpivirin im Abstand von vier bzw. acht Wochen mit einer Spritze verabreicht werden.
Corona-Pandemie setzt Communityeinrichtungen unter Druck: Drogenkonsumräume, Kontaktläden und andere Anlaufstellen für Drogennutzer*innen können infolge der Covid-19-Krise ihre niedrigschwelligen Angebote nur noch stark reduziert anbieten. Für viele Klient*innen hat dies gravierende Folgen.
Auch in der LGBTIQ*-Community sind Schutzräume in Gefahr. Durch die Corona-Verordnungen stehen viele Orte des queeren Lebens vor dem Aus und es ist zu befürchten, dass die auch für die Prävention so wichtige Infrastruktur der Community nachhaltig zerstört werden könnte.
„GleichBeHandeln“: Ohne Angst zum Arzt* zur Ärztin zu gehen – das ist in Deutschland für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus nicht möglich. Die Kampagne „GleichBeHandeln“ forderte daher u. a. die Abschaffung der sogenannten Übermittlungspflicht an die Ausländerbehörde und sorgte mit einer Fotoaktion für mediale Aufmerksamkeit.
Im September wurden Direktkandidat*innen für die Bundestagswahl mit einer Briefkampagne zu einer Gesetzesänderung aufgerufen. Mit Erfolg: Die Forderungen wurden im Koalitionsvertrag aufgenommen.
Naloxontraining.de: Bei rechtzeitigem Einsatz im Fall einer Opioid-Überdosierung kann das Medikament Naloxon Leben retten. Eine neue App und Webseite informiert über die richtige Anwendung des Medikaments und über Erste-Hilfe-Maßnahmen bei einem Drogennotfall.
Juni
40 Jahre Aids: Am 5. Juni 1981 wurde im Mitteilungsblatt des US-amerikanischen Centers for Disease Control zum ersten Mal über eine mysteriöse Erkrankung berichtet, die später unter dem Namen Aids bekannt wurde. Zwei Jahre später gründete sich die Deutsche Aidshilfe und setzt sich seither für Menschen mit HIV ein.
Der Filmemacher Jobst Knigge nahm das Jubiläum zum Anlass, in seiner TV-Dokumentation „40 Jahre Aids – Schweigen = Tod“ einen Blick auf die Geschichte von HIV/Aids insbesondere in Deutschland zu werfen.
Menschenrechtsverletzung in bayrischer Haftanstalt: Weil ihrem heroinabhängigen Bruder in der Justizvollzugsanstalt Bernau eine Substitutionsbehandlung verweigert wurde, hat Claudia Jaworski ihm die Medikamente in den Knast geschmuggelt. Dafür wurde sie zwar verurteilt, die Richterin aber findet deutliche Worte für die skandalösen Zustände in der JVA.
Claudia Jaworski spricht im DAH-Interview wiederum von „systematischer Rechtsbeugung hinter den Mauern“.
Juli
Bundesmodellprojekt „NALtrain“ gestartet: Um das Notfallmedikament Naloxon bekannter zu machen, werden in 40 Städten Mitarbeiter*innen in Einrichtungen der Aids- und Drogenhilfe zu Trainer*innen ausgebildet werden, die ihr Wissen dann in Kurzinterventionen an Drogenkonsumierende und Substituierte weitergeben.
August
Drug-Checking in Thüringen: Verschiedene Anläufe in anderen Bundesländern waren an rechtlichen Hürden gescheitert. Der Suchthilfe in Thüringen jedoch ist es mit ihrem Projekt „SubCheck“ gelungen, erstmals in Deutschland Drug-Checking legal zu ermöglichen. Künftig soll das nun einfacher werden. Das zumindest hat die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertag in Aussicht gestellt.
September
positive stimmen 2.0: In Deutschland ist ein gutes Leben mit HIV medizinisch möglich, doch der gesellschaftliche Umgang hinkt hinterher. Zu diesem Ergebnis kommt das gemeinsam von der DAH und dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft durchgeführte Forschungsprojekt „positive stimmen 2.0“. 95% der Studienteilnehmenden berichten von mindestens einer diskriminierenden Erfahrung in den letzten 12 Monaten aufgrund ihrer HIV-Infektion. Mehr als die Hälfte erlebte Diskriminierung im Gesundheitswesen.
Neue Blutspenderichtlinie: Nach jahrelanger Kritik hat die Bundesärztekammer den grundsätzlichen Ausschluss von Männern, die Sex mit Männern haben, zwar revidiert. Doch die neue Regelung ist weiterhin diskriminierend: Blut spenden dürfen nun schwule und bisexuelle Männer nur, wenn sie in einer dauerhaften monogamen Beziehung leben.
Oktober
Digitalisierung der Aidshilfe: Ob bei der Beratung, in der Selbsthilfe oder der internen Organisation und Kommunikation – in vielen Bereichen der Aidshilfearbeit hat die Digitalisierung bereits Einzug gehalten.
Auf einem Fachtag in Bielefeld wurden innovative Ideen vorgestellt
wie auch die besonderen Herausforderungen diskutiert.
Denn digitale Angebote bieten nicht nur viele neue Möglichkeiten, sie schaffen auch neue soziale Ungleichheiten.
Deutsche Drogenpolitik auf dem Prüfstand: Im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen hat DAH-Fachreferent Dirk Schäffer die künftige Bundesregierung zu einem Neuanfang in der Drogenpolitik aufgefordert. Seine konstruktive Kritik und Vorschläge zu Themen wie Drug-Checking, Suchtmedizin und Entkriminalisierung von Drogengebraucher*innen hat für Diskussionen gesorgt sowie insbesondere die Debatte in den sozialen Medien befeuert. Dort wurden die Rufe nach Veränderungen so laut, dass sie die neue Regierung nicht mehr ignorieren konnte: Einige der zentralen Punkte wurden im Koalitionsvertrag tatsächlich aufgegriffen.
Die Deutsche Aidshilfe forderte die Ampelparteien auf, staatliche Regulierung und Hilfe statt Strafe zur Grundlage ihrer Drogenpolitik zu machen.
November
HIV-Bericht des RKI: Das Robert-Koch-Institut hat 2020 rund 2.000 HIV-Neuinfektionen registriert – das sind 300 weniger als im Vorjahr. Gestiegen ist hingegen die Zahl der Menschen, die sich durch intravenösen Drogenkonsum infiziert haben. Die Ursache ist skandalös: Weil vielerorts die kommunalen Drogenhilfen unterfinanziert sind, können sie nicht ausreichend sterile Spritzen bereitstellen. Auch in Gefängnissen sind Konsumutensilien nicht verfügbar.
Corona-Krise bremst die Eindämmung von HIV: In einem bislang einmaligen Zusammenschluss haben UNAIDS, der Globale Fond zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria, die Deutsche Aidshilfe und das Aktionsbündnis gegen AIDS auf die fatalen Folgen der Covid-19-Pandemie für die weltweite HIV/Aids-Situation hingewiesen. Vielerorts könnten die hart errungenen Fortschritte wieder zunichtegemacht werden. Verhindert werden kann dies nur durch ein zügiges und entschiedenes Handeln.
Wie wichtig die weltumspannende Solidarität und ein Paradigmenwechsel bei der internationalen Reaktion auf Covid-19 ist, macht die HIV-Aktivistin Cindy Kelemi am Beispiel ihres Heimatlandes Botswana deutlich: Bei der Verteilung des Impfstoffs seien – wie schon bei den HIV-Medikamenten – erneut die ärmeren Länder die Verlierer.
Dezember
Starke Stimmen: Anlässlich des Welt-Aids-Tages starten die DAH, die Deutsche Aids-Stiftung und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine gemeinsame Kampagne gegen Diskriminierung von Menschen mit HIV. Im Mittelpunkt stehen klare, mutige und auch augenzwinkernde Statements, die Einblicke in den Lebensalltag von HIV-positiven Menschen geben und Mut machen für ein entspanntes Miteinander in allen Lebensbereichen.
Zwei Jahre #positivarbeiten: Fast 190 Unternehmen und Betriebe, Kommunen, Ministerien und Verbände haben inzwischen die Arbeitgeber*innen-Deklaration der Deutschen Aidshilfe gegen Diskriminierung – für Respekt und Selbstverständlichkeit unterzeichnet. 2021 sind 34 neu hinzugekommen, unter anderem die Allianz, Vattenfall und das Klinikum Stuttgart, der Senat von Berlin sowie die Städte Hannover und Wuppertal.
Zugleich expandiert die Initiative nun auch international: In Österreich haben bereits über 100 Unternehmen und Arbeitgeber*innen die Deklaration unterzeichnet.
Zum Welt-Aids-Tag wurde im Rahmen der Kampagne das kostenlose Fortbildungstool „Leben und Arbeiten mit HIV“ für eine diskriminierungsfreie und entspannte Zusammenarbeit veröffentlicht.
Die DAH auf Instagram: 2021 hat die DAH ihre Aktivitäten auf der Social-Media-Platform Instagram ausgebaut. Dort bieten sich viele Möglichkeiten, insbesondere jüngere Zielgruppen zu erreichen und Wissen zu vermitteln, Haltung zu beziehen – und neue Formate auszuprobieren. Zum Welt-Aids-Tag etwa ging – gemeinsam mit dem JoyClub, einer großen sexpositiven Community – das erste Insta-Live-Video an den Start.
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