Jahresrückblick

Das war unser 2022: Große Herausforderungen, aber auch große Solidarität

Von Axel Schock
(Bilder von links nach rechts und von oben nach unten: Joha92 / photocase.de, 2x Johannes Berger, birdys / photocase.de, DAH | Renata Chueire)

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und der Ausbruch der „Affenpocken“ (Mpox) haben 2022 die Arbeit der Aidshilfen bestimmt, doch gab es auch darüber hinaus Ereignisse, Entwicklungen und Debatten, die uns bewegt und beschäftigt haben. Ein Rückblick der magazin.hiv-Redaktion.

Januar

Blutspende: Frankreich schafft das Blutspendeverbot für schwule und bisexuelle Männer ab. Der vor der Blutspende auszufüllende Fragebogen soll keine Fragen und Kriterien zur sexuellen Orientierung mehr enthalten. Allerdings müssen potenzielle Spender*innen offenlegen, ob sie präventive Medikamente vor oder nach einem HIV-Risikokontakt eingenommen hatten. PEP- und PrEP-Nutzer*innen bleiben daher für vier Monate nach der letzten Einnahme von der Blutspende ausgeschlossen.

Februar

HIV-Heilung? Mit der „New Yorker Patientin“ gibt es möglicherweise eine dritte Heilung von HIV durch eine Stammzelltransplantation. Das Verfahren wäre erstmals bei einer Frau erfolgreich. Sie wäre zudem die erste Person, bei der Stammzellen aus Nabelschnurblut erfolgreich zum Einsatz kamen.

Februar / März

Krieg in der Ukraine: Unter den Hunderttausenden Menschen, die mit Beginn des russischen Angriffskrieges aus der Ukraine flüchten müssen, sind auch viele queere Menschen. Weil deren besondere Notlagen spezifische Hilfe erfordern, haben sich über 50 Organisationen, darunter die Deutsche Aidshilfe (DAH), zum Bündnis Queere Nothilfe Ukraine zusammengeschlossen. Es unterstützt sichere Notunterkünfte für queere Geflüchtete in der Ukraine, versorgt Menschen auf der Flucht mit dem Nötigsten und setzt sich auch in Deutschland für eine gute Versorgung ein. Die LGBTIQ*-Community und solidarische Unterstützer*innen haben dafür bereits mehr als 700.000 Euro gespendet.

Auf ihrer Website und mit Youtube-Videos stellt die Deutsche Aidshilfe wichtige Informationen für Geflüchtete aus der Ukraine in mehreren Sprachen bereit, zum Beispiel zum deutschen Gesundheitssystem sowie zu den Themen HIV-Versorgung, Substitutionstherapie, queeres Leben oder Sexarbeit in Deutschland.

Menschen mit HIV, Drogen gebrauchende und queere Menschen sowie BIPoC (für Black, Indigenous, People of Color) hat der Ukraine-Krieg in besondere Notlagen gebracht. Sasha Gurinova vom Team „Internationales“ der Deutschen Aidshilfe und Oksana Panochenko von Aids Action Europe schildern im Interview, welche Unterstützung gebraucht wird. Sasha berichtet zudem von beschämenden Szenen, die sie an der polnisch-ukrainischen Grenze beobachtet hat: Während fliehende ukrainische Bürger*innen mit offenen Armen empfangen werden, müssen Menschen, die sich mit einer Aufenthaltserlaubnis in der Ukraine aufgehalten haben, rassistische Behandlungen erleben.

Über die prekäre Lage von Menschen in der Ukraine, die schwul, lesbisch oder trans* sind, mit HIV leben oder Drogen nehmen, aber auch über das solidarische Netzwerk innerhalb des Landes und die improvisierte Versorgung berichtet der in Kyjiw lebende HIV-Aktivist Gennady Roshchupkin im Interview.

März

PrEP-Studie: Die HIV-Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) ist ein hoch effektiver Schutz vor HIV – und ihr Potenzial ist in Deutschland längst nicht ausgeschöpft. Sie wird überwiegend von Männern genutzt, die Sex mit Männern haben (MSM); und anders als bisweilen befürchtet, hat die Zahl anderer sexuell übertragbarer Krankheiten durch die PrEP-Nutzung nicht zugenommen. Das sind zentrale Erkenntnisse aus der Evaluation „EvE-PrEP“, welche das Robert-Koch-Institut im Zuge der Einführung der PrEP als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen durchgeführt hat.

April

Skandal an der Uni Marburg: Ein Student der Zahnmedizin an der Philipps-Universität Marburg kann sein Studium nicht abschließen, weil er mit HIV lebt. Im Rahmen der arbeitsmedizinischen Untersuchung wird ein HIV-Test von ihm verlangt. Weil dieser positiv ausfällt, darf er nicht an den praktischen Kursen teilnehmen. Der Rechtsstreit zieht sich seit 2020. Obwohl der HIV-Status von Beschäftigten für den Berufsalltag völlig irrelevant ist, sind HIV-Tests vielerorts Teil der Bewerbungs- und Einstellungsverfahren. Der Marburger Fall offenbart, wie mangelhaft selbst im Medizinbereich die Kenntnisse zu HIV und wie weiterhin verbreitet irrationale Ängste vor einer HIV-Übertragung sind.

Der Arbeitsmediziner Hubertus von Schwarzkopf stellt im Vorgehen der Marburger Universität auch Verstöße gegen den Datenschutz und das Arbeitsrecht fest. Der Vorgang sei „fachlich nicht korrekt und ethisch nicht vertretbar, denn diese Diskriminierung hat erhebliche psychologische, soziale und finanzielle Auswirkungen für den Studierenden“.

Neues DAH-Fachportal: Mit profis.aidshilfe.de steht Berater*innen und anderen Fachleuten im Bereich HIV und Geschlechtskrankheiten ein Portal zur Verfügung, das relevante Informationen, Materialien und Fachbeiträge sammelt. Mit dem Launch der Website wird das Erscheinen der Publikationen „HIV-Beratung aktuell“ und „HIV.Report“ eingestellt. Die bisherigen Ausgaben bleiben auf profis.aidshilfe.de abrufbar.

Mai

Mpox-Ausbruch: Anfang Mai werden die ersten Fälle von „Affenpocken“ (Mpox) in Europa gemeldet, noch im selben Monat werden die ersten Erkrankungen in Deutschland diagnostiziert. Betroffen sind fast ausschließlich schwule und bisexuelle Männer. Die Deutsche Aidshilfe beginnt, in Zusammenarbeit mit Akteur*innen aus Gesundheitswesen und der schwulen Community Informationen zu sammeln und bereitzustellen.

Drogen-Todesfälle: 2021 sind in Deutschland 1.826 Menschen an den Folgen von Drogenkonsum – und vor allem der gescheiterten Drogenverbotspolitik – gestorben. Das sind fast 16 Prozent mehr als 2020 und 44 Prozent mehr als 2017. Die Deutsche Aidshilfe fordert daher erneut einen unverzüglichen Politikwechsel hin zu Entkriminalisierung und staatlicher Regulierung.

IWWIT-Schwerpunkt: Menschen mit HIV erleben immer noch in großem Maße Stigmatisierung und Diskriminierung – auch in der schwulen Community. Das hat die 2021 veröffentlichte Studie „positive stimmen 2.0“ gezeigt. Unsere Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU reagiert auf dieses Ergebnis mit einem Themenschwerpunkt und veröffentlicht unter anderem ein vielgeklicktes Video mit Barbie Breakout.

Juni

Europäischer Drogenbericht 2022: Die vorgelegten Daten der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) zeigen: Angebote zur Schadensminimierung und Behandlung sind nach wie vor unzureichend, Drogenproduktion und -konsum sind wieder auf einem Level wie vor der Covid-19-Pandemie. Zudem kommen ständig neue, potenziell gefährliche psychoaktive Substanzen hinzu. Ein weiteres Phänomen: Die Vertriebswege verlagern sich zum Teil in die Sozialen Medien.

Mpox: Die Zahl der gemeldeten Infektionen mit dem „Affenpocken“-Virus steigt auch in Deutschland kontinuierlich an. Die von der DAH eingerichteten und stetig aktualisierten Themenseiten auf aidshilfe.de und iwwit.de werden eine wichtigen Informationsquelle für die schwule Community, Medien sowie Fachleute der sexuellen Gesundheit. Ein Lichtblick ist die Impfung mit Imvanex – auch wenn der Impfstart in vielen Bundesländern zunächst schleppend verläuft.

Juli

Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher*innen: Der 25. Gedenktag am 21. Juli wird bundesweit mit über 90 Veranstaltungen begangen. Mehr als 400 Organisationen und Einrichtungen und unzählige Aktivist*innen erinnern an die Verstorbenen und senden damit zugleich ein unübersehbares Signal für eine Änderung der Drogenpolitik.

Positive Begegnungen: „Gemeinsam Unterschiede feiern – sichtbar, streitbar, stark“ lautet das Motto der „Positiven Begegnungen“ in Duisburg, die 2022 nach einer Corona-Pause endlich wieder stattfinden können. Und tatsächlich ist die Vielfalt der rund 400 Teilnehmenden bei Europas bedeutendster Konferenz zum Leben mit HIV so groß wie nie zuvor: Erstmals nehmen auch geflüchtete Menschen mit HIV aus der Ukraine teil, und mehr als die Hälfte der teilnehmenden Menschen stammt nicht ursprünglich aus Deutschland.

#SchutzFuerAlle: Jungen afrikanischen Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtet sind, droht in Deutschland die Abschiebung. Sie erleben Rassismus und haben nicht die gleichen Rechte wie geflüchtete Menschen mit ukrainischem Pass. Die Deutsche Aidshilfe unterstützt ihre Petition #SchutzFuerAlle.

Initiator*innen der Petition #SchutzFuerAlle (Foto: Johannes Berger)

August

In memoriam: Im Alter von 88 Jahren ist Prof. Dr. Manfred L’age verstorben. Der Internist hatte als Chefarzt der Infektiologie des Berliner Auguste-Viktoria-Krankenhauses (AVK) in den frühen 1980er-Jahren mit die ersten Aidsfälle in Deutschland behandelt und dort die erste HIV-Station aufgebaut. Gemeinsam mit der Berliner Aids-Hilfe (BAH) und den Gesundheitsämtern entwickelte und etablierte Manfred L’age 1986 ein Konzept der integrierten HIV-Versorgung, das als „Schöneberger Modell“ bekannt und von vielen anderen deutschen Städten kopiert wurde.

Welt-Aids-Konferenz in Montréal: Nach den schweren Rückschlägen durch die Corona-Pandemie drängen die Fachwelt und die Community auf ein verstärktes Engagement gegen HIV/Aids. Auch der Gesundheitsnotstand durch den Krieg in der Ukraine und der internationale Mpox-Ausbruch erfordern dringend solidarisches Handeln.

„Global AIDS Update 2022“: Auch UNAIDS fordert angesichts globaler Krisen wie Covid-19 und dem russischen Angriffskrieg sofortiges und entschiedenes Handeln. Der anlässlich der Welt-Aids-Konferenz vorgelegte Bericht mit dem sprechenden Titel „In Danger“ macht deutlich, dass die globalen Ziele zur Beendigung der Aids-Pandemie ohne zusätzliche Anstrengungen nicht mehr erreicht werden können.

September

Mein schwuler Sex: Während der #MeToo-Diskurs inzwischen breit in der Gesellschaft geführt wird, werden sexuelle Selbstbestimmung und sexueller Konsens innerhalb der schwulen Community kaum thematisiert. Dabei sind körperliche Berührungen bis hin zu sexuellen Übergriffen Alltag innerhalb der schwulen Szene und ihrer Sexorte, wie Studien zeigen. Ein Beitrag im Rahmen der Serie „Mein schwuler Sex“ macht die Notwendigkeit des Diskurses zu sexueller Gewalt bei schwulen Männern deutlich.

https://magazin.hiv/meinschwulersex/ueber-sexuellen-konsens/

HIV-Stigma: Im Zuge der Coronapandemie wurde in Bayern die Bestattungsverordnung geändert – mit fatalen Folgen auch für die Beisetzung von Menschen, die mit HIV oder Hepatitis lebten. Weil deren Leichname vermeintlich infektiös seien, dürfen sie nicht gewaschen oder aufgebahrt, sondern müssen umgehend eingeäschert werden. Dabei besteht hier keine Infektionsgefahr für Bestatter*innen oder Trauernde. Ein bislang kaum beachteter Skandal.

Oktober

Diskriminierung im Arbeitsleben: Ein Gerichtsurteil stärkt Menschen mit HIV im Beruf. Die Berliner Feuerwehr muss einem Bewerber Entschädigung zahlen, weil sie ihn wegen seines positiven HIV-Status für grundsätzlich dienstuntauglich erklärte und deshalb ablehnte. Das sei diskriminierend und stelle eine Benachteiligung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes dar, urteilte das Verwaltungsgericht.

Plattform für E-Learning: Die Deutsche Aidshilfe hat in den vergangenen Jahren ihr Bildungsprogramm sukzessive um digitale Angebote erweitert. Auf der neu geschaffenen Lernplattform lernen.aidshilfe.de sind diese nun gebündelt und damit leichter auffindbar.

November

Drug-Checking: Mit einem insbesondere an die politisch Verantwortlichen und die interessierte Fachöffentlichkeit adressierten Positionspapier klären die Deutsche Aidshilfe und drogenpolitische Organisationen über Drug-Checking auf. Das Papier diskutiert rechtliche Regelungsbedarfe und -möglichkeiten und macht der Politik und Verwaltung konkrete Vorschläge zur Umsetzung.

In memoriam: Marco Jesse, langjähriger Mitstreiter und Aktivist der Selbsthilfe und Interessenvertretung Drogen gebrauchender Menschen, ist im Alter von 52 Jahren gestorben. Mit einem Gedenkbuch erinnern Weggefährt*innen an das Vorstandsmitglied des JES Bundesverbands. Dort wie auch in vielen anderen Gremien, etwa im Delegiertenrat der Deutschen Aidshilfe und im Gemeinsamen Bundesausschuss, hat sich Marco Jesse leidenschaftlich für die Rechte und die Würde von Drogen gebrauchenden Menschen engagiert.

Dezember

Welt-Aids-Tag: Mit ihrer gemeinsamen Kampagne „Leben mit HIV. Anders als du denkst?“ regen die DAH, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Deutsche AIDS-Stiftung an, sich Vorurteile über das Leben mit HIV bewusst zu machen und zu korrigieren. Die Protagonist*innen der Kampagne treten Stigmatisierung und Diskriminierung entschieden entgegen und machen selbstbewusst deutlich, dass sie behandelt werden wollen wie alle anderen Menschen.

PrEP: Das derzeit bestehende Abrechnungsmodell, mit dem Ärzt*innen die Leistungen im Rahmen der PrEP-Versorgung extrabudgetär abrechnen können, wird bis Ende 2023 verlängert. Der Gemeinsame Bundesausschuss hatte ursprünglich vorgesehen, die PrEP-Behandlungen künftig aus dem gedeckelten Budget der Arztpraxen finanzieren zu lassen. Die DAH fordert eine flächendeckende PrEP-Versorgungsstruktur und Erleichterungen für Ärzt*innen.

Sexarbeit: Eine Gruppe von Sexarbeiter*innen will die Arbeitsbedingungen in der Sexarbeit verbessern und plant mit „Paramour“ die Gründung von Deutschlands erster genossenschaftlich organisierten Escort-Agentur. Alle Sexarbeiter*innen, die darüber ihre Dienstleistungen anbieten wollen, sollen Anteilseigner*innen werden, mitbestimmen und vom Gewinn profitieren.

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