Der Sänger und Schauspieler Michael Callen verstarb 1993 (Foto: Wikipedia)
Michael Callen, Aidsaktivist und Mitinitiator der Denver-Prinzipien (Foto: Wikipedia)

Als 1983 eine Gruppe von Menschen mit Aids die „Denver-Prinzipien“ erstellten, schufen sie damit die bis heute geltenden Grundlagen für den Aidsaktivismus und die Interessenvertretung von Patienten. Ein Kalenderblatt von Axel Schock.

„Die Homosexuellen-Seuche… hat Europa erreicht“, alarmierte DER SPIEGEL im Juni 1983 in seiner ersten Aids-Titelgeschichte die Leser. „Die Ärzte sind ratlos: Über die Ursache wird nur spekuliert, eine Behandlung gibt es nicht.“ In den USA hatte zu diesem Zeitpunkt die Epidemie bereits Tausende Tote gefordert und für Angst, Verunsicherung und auch Wut gesorgt.Wer an der mysteriösen Seuche erkrankte, galt als gefährlich und im Zweifelsfall als schwul. In den am stärksten betroffenen Städten wie San Francisco und New York wollte man nicht tatenlos zusehen, wie ringsherum die Menschen starben, ohne pflegerisch und medizinisch versorgt zu werden, und es entstanden erste Selbsthilfeorganisationen wie die Gay Men’s Health Crisis (GMHC).

Mitreden statt zum Zuhören verdammt zu sein

„Als Menschen mit Aids saßen wir auf den Veranstaltungen der GMHC herum und hörten schweigend einer Reihe von Ärzten, Krankenschwestern, Rechtsanwälten und Versicherungsexperten zu, die uns wortreich beschrieben, wie es ist, wenn man Aids hat“, erinnern sich die Aidsaktivisten Michael Callen und Dan Turner in einem Beitrag zum DAH-Forumsband „ACT UP: Feuer unterm Arsch“. „Es dämmerte mehreren zur gleichen Zeit, dass mit diesem Bild irgendetwas nicht stimmte. Die ‚wirklichen Experten’, so stellten wir fest, waren nicht auf dem Podium.“

Bobbi Campbell bei einer Demonstration
Bobbi Campbell. Aids-Aktivist und Mitinitiator der „Denver-Prinzipien“, bei einer ACT-UP-Aktion (Foto: Marie Ueda)

Infizierte und Erkrankte wie Callen, Turner und viele Tausend andere waren es leid, dass die medizinische und wissenschaftliche Welt ihre Kompetenzen nicht einmal abfragte und sie auch nicht in die Forschungsbemühungen eingebunden wurden. Eine Handvoll von ihnen nutzte daher das von der „Lesbian and Gay Health Education Foundation” unterstützte „National AIDS Forum Denver”, um sich dort mit anderen Aktivsten zu beraten.

Mut zum „Aids-Coverboy”

Unter ihnen war Bobbi Campbell. Er gehörte zu den ersten US-Amerikanern, die mit der Krankheit an die Öffentlichkeit gingen. 1983 ließ er sich für das Cover des NEWSWEEK-Magazins mit seinem Lebenspartner fotografieren – eine Aktion, die ihm den Spitznamen „Aids-Coverboy“ einbrachte. Campbells Vision war eine landesweite Organisation und  ein politisches Netzwerk von Menschen mit Aids.

Bobby Campbell und Partner auf dem titelbild der Newseek
Bobbi Campbell und sein Partner auf dem Cover der „Newsweek“ (Foto.: Newsweek)

Die Idee schien so einleuchtend, dass in kürzester Zeit und in überraschendem Konsens eine wegweisende Liste verabschiedet werden konnte: mit Empfehlungen an Menschen mit Aids, an das Personal im Gesundheitswesen und alle anderen Mitmenschen, aber auch mit der Aufforderung, die Rechte der an Aids Erkrankten zu wahren. Diese Charta wurde nicht nur die Grundlage der heute längst selbstverständlichen Patienten-Interessenvertretung, sondern  definierte auch entscheidend das Selbstverständnis der mit HIV und Aids Lebenden.

Die Geburtsstunde der Patienten-Interessenvertretung

„Wir verurteilen alle Versuche, uns als Opfer zu bezeichnen, ein Ausdruck, der Niederlage impliziert. Und wir sind nur gelegentlich Patienten, eine Bezeichnung, die Passivität, Hilflosigkeit und Abhängigkeit von der Hilfe anderer mit ausdrückt. Wir sind ‚Menschen mit AIDS’“, heißt es programmatisch in der Präambel der „Denver-Prinzipien“.

Cover des Spiegel-Magazins zu Aids
„Tödliche Seuche“: „Spiegel“-Cover vom Juni 1983 (Abbildung „Der Spiegel“)

Um sicherzugehen, dass diesen Grundsätzen auch die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird, stürmte die Gruppe die Abschlussveranstaltung des „National AIDS Forum“, um die 17 Punkte umfassende Erklärung des „Advisory Committee of People with Aids” zu verlesen. „Die Idee traf uns wie ein Blitzschlag. Bis jetzt waren wir einfach nicht darauf gekommen, dass wir als Betroffene irgendwie mehr sein könnten als nur die passiven Empfänger aufrichtiger Anteilnahme von jenen, die (noch) nicht diagnostiziert waren“, erinnern sich Callen und Turner. „Sobald das Konzept von Menschen mit Aids, die für sich selbst eintreten, einmal auf dem Tisch lag, griff die Idee um sich wie ein Lauffeuer.“

Die Idee griff um sich wie ein Lauffeuer

So gründeten sich in der Folge unter anderem mit „People With Aids New York“ und „National Association of People with AIDS“ erste politische Organisationen von Menschen mit Aids. Aber auch über die USA hinaus, so auch für die Deutsche AIDS-Hilfe, sind die Denver-Prinzipien zu Leitlinien des Aidsaktivisimus und der Selbsthilfe geworden – und bis heute geblieben.

 

***

Denver-Prinzipen

Erklärungen des „Advisory Committee of People with Aids”

Wir verurteilen alle Versuche, uns als „Opfer” abzustempeln, ein Ausdruck, der Scheitern impliziert. Ebenso sind wir nur manchmal „Patienten”, ein Wort, das Passivität, Hilflosigkeit und Abhängigkeit von der Fürsorge anderer suggeriert. Wir sind „Menschen mit Aids“.

Empfehlungen an das Personal im Gesundheitswesen

1. Seid offen, vor allem gegenüber euren Patienten mit Aids.

2. Macht die Theorie, die ihr über die Ursachen von Aids habt, deutlich und diskutiert sie mit euren Patienten, da dies eure Behandlungsmethoden und eure Pflege beeinflusst.

3. Sprecht über eure Gefühle bezüglich Aids (z.B. Ängste, Befürchtungen, Hoffnungen usw.) und befasst euch nicht nur intellektuell damit.

4. Setzt euch gründlich mit euch selbst und mit eurer Haltung gegenüber Aids auseinander.

5. Behandelt Menschen mit Aids immer als vollwertige und selbstverantwortliche Personen. Sprecht über psychosoziale Probleme genauso wie über medizinische Fragen.

6. Redet mit Menschen mit Aids – auch über ihre Sexualität – gefühlvoll und ohne auszuweichen. Dazu braucht ihr Informationen über die Sexualität von Schwulen, besonders von Menschen mit Aids.

Empfehlungen an alle

7. Helft uns im Kampf gegen diejenigen, die uns unsere Jobs wegnehmen und uns aus unseren Wohnungen hinauswerfen wollen; gegen diejenigen, die sich weigern, uns zu berühren oder die uns von unseren Geliebten, unseren Freunden und Gleichgesinnten trennen wollen. Es gibt nämlich keinerlei Hinweis darauf, das Aids durch alltägliche soziale Kontakte übertragen werden kann.

8. Macht Menschen mit Aids nicht zum Sündenbock. Gebt uns nicht die Schuld an der Epidemie. Zieht keine verallgemeinernden Schlüsse über unsere Lebensstile.

Empfehlungen an Menschen mit Aids

9. Setzt euch zusammen und wählt eure eigenen Vertreter. Stellt euch selbst eure Aufgaben und entwickelt eure eigenen Strategien. Sprecht selbst mit den Leuten, die in den Medien arbeiten.

10. Macht von eurem Recht Gebrauch, an allen Entscheidungsprozessen, vor allem in den Vorständen eurer Hilfsorganisationen, mitzuwirken.

11. Engagiert euch auf allen Aidsveranstaltungen und tut dies gleichberechtigt mit anderen Teilnehmern. Tauscht mit ihnen Erfahrungen und Erkenntnisse aus.

12. Praktiziert Safer Sex, um eure Partner und euch selbst nicht zu gefährden. Wir sind der Meinung, dass Menschen mit Aids eine ethische Verantwortung haben, ihre potenziellen Sexualpartner/innen über ihren Gesundheitszustand zu informieren.

Rechte der Menschen mit Aids

13. Wir haben das Recht auf ein lebenswertes Dasein, auf ein gefühlsmäßig und sexuell voll befriedigendes Leben, wie jeder andere Mensch auch.

14. Wir haben das Recht auf hochwertige medizinische Behandlung und qualifizierte soziale Unterstützung in jeder Hinsicht, ohne jegliche Diskriminierung aufgrund unserer sexuellen Orientierung, unseres Geschlechtes, unserer medizinischen Diagnose, des sozialen Status oder unserer ethnischen Herkunft.

15. Wir haben das Recht auf Aufklärung über alle medizinischen Vorgänge und Risiken, auf die Wahl oder Verweigerung einer Behandlungsmethode, auf die Weigerung, an wissenschaftlichen Forschungen teilzunehmen. Wir haben dieses Recht, ohne gleichzeitig riskieren zu müssen, die qualifizierte medizinische Behandlung zu verlieren. Wir haben das Recht, selbstverantwortlich Entscheidungen über unser Leben zu treffen.

16. Wir haben das Recht auf Privatsphäre, auf die vertrauliche Behandlung unserer medizinischen Daten. Wir haben das Recht auf menschlichen Respekt und auf die Wahl unserer wichtigsten Kontaktpersonen.

17. Wir haben das Recht, in Würde zu sterben – und zu LEBEN.

Aus: Michael Callen (ed.): Surviving and Thriving with AIDS: Collection Wisdom. Volume Two. People with Aids Coalition Inc., New York 1998

Link zur englischen Fassung der „Denver Principles“

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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