Geflüchtete im Asylverfahren bekommen nur eingeschränkte Gesundheitsleistungen. Besonders für trans* Personen ist das ein existenzielles Problem. Dabei haben sie laut einer Expertise das Recht auf ihrer Seite.

Welche Gesundheitsleistungen Geflüchtete im Asylverfahren erhalten können, regelt das Asylbewerberleistungsgesetz. Demnach haben sie nur Anspruch auf die Behandlung von akuten Erkrankungen, Vorsorgeuntersuchungen und auf Untersuchungen und Behandlungen rund um Schwangerschaft und Geburt. Die Schwulenberatung Berlin, zu der auch eine Fachstelle für lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und inter* (LSBTI*-) Geflüchtete gehört, hat eine rechtliche Expertise in Auftrag gegeben, um zu klären, inwieweit geflüchtete trans* Personen bereits während des Asylverfahrens einen rechtlichen Anspruch auf trans*-spezifische medizinische Leistungen haben.

Axel Schock hat mit Stephan Jäkel gesprochen, Leiter der Abteilung HIV-STI-Prävention und Flucht der Schwulenberatung Berlin.

Dass die Schwulenberatung Berlin eine Expertise bei Jurist*innen in Auftrag gibt, dürfte eher selten vorkommen. Hier muss sich also dringend was ändern?

Stephan Jäkel: Das ist bereits die dritte rechtliche Expertise, die wir zum Thema LSBTI*-Geflüchtete herausgegeben haben. Geflüchtete befinden sich ohnehin in einer prekären Lebenssituation. Für diejenigen, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder inter* sind, verschärft sie sich durch Mehrfachzugehörigkeiten und damit verbundene Diskriminierungserfahrungen oftmals noch weiter.

Zudem ist die spezifische Situation von LSBTI*-Geflüchteten in den letzten Jahren überhaupt erst sichtbar geworden. Auch wenn gerade in Berlin schon einiges erreicht wurde, stoßen wir im Beratungsalltag regelmäßig auf Barrieren und an Grenzen, die eine gleichberechtigte Teilhabe verhindern.

„Für trans* Personen potenzieren sich zwei strukturelle Barrieren“

Für die gesundheitliche Versorgung von trans* Geflüchteten potenzieren sich zwei strukturelle Barrieren: Die Gesundheitsversorgung von Geflüchteten im Asylverfahren ist generell schlechter als für Nicht-Geflüchtete, und der Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen für trans* Personen ist auch ohne Fluchterfahrung mit hohen und diskriminierenden Vorgaben versehen. Deshalb ist unserer Ansicht nach eine rechtliche Expertise notwendig, um hier Auswege aufzuzeigen.

Wie sehen eure Erfahrungen aus, etwa in der von der Schwulenberatung Berlin betriebenen Gemeinschaftsunterkunft für queere Geflüchtete oder in der Beratung? Wie häufig kommt es vor, dass trans* Geflüchtete nicht die erforderliche Gesundheitsversorgung erhalten?

Im Prinzip ist das regelmäßig der Fall, und die Zahl der trans* Personen in unserer Unterkunft steigt stetig. Derzeit sind ein Drittel der rund 80 Bewohner*innen trans*, 2015 waren es 15 Prozent.

„Corona-bedingt kommen mehr trans* Personen, die schon länger in Berlin wohnen“

Es hat auch eine Verschiebung bei den Herkunftsländern gegeben. 45 Prozent sind heute aus den ehemaligen Sowjetrepubliken; vor zwei, drei Jahren waren das noch rund 20 Prozent. In unseren Beratungsangeboten haben wir auch zahlreiche georgische LSBTI* kennengelernt, darunter auch viele trans* Personen.

Seit einiger Zeit kommen Corona-bedingt mehr und mehr trans* Personen aus Mittel- und Lateinamerika, die schon länger in Berlin wohnen. Einige lebten von Sexarbeit, andere in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Sie mussten sich jetzt aufgrund des Wegfalls dieser Verdienstmöglichkeiten dazu entscheiden, einen Asylantrag zu stellen.

Welche trans*-spezifischen Gesundheitsleistungen werden Asylbewerber*innen verwehrt?

Das beginnt bei der Hormontherapie und Epilationen und geht weiter zu Operationen wie der Entfernung des Adamsapfels oder der Brüste beziehungsweise dem Aufbau von Brüsten, eines Penoids oder einer Neo-Vagina. Zwar kann eine Hormontherapie, die bereits im Herkunftsland begonnen wurde, hier auch fortgesetzt werden. Ebenso können die Folgen von im Herkunftsland durchgeführten geschlechtsangleichenden Maßnahmen medizinisch behandelt werden, das ist aber überhaupt nicht ausreichend.

Was bedeutet es für Asylbewerber*innen, während des oft ja langwierigen Verfahrens auf solche Gesundheitsleistungen verzichten zu müssen?

Wenn diese geschlechtsangleichenden Maßnahmen ausbleiben, bedeutet das für die betreffenden Personen, dass sie weiterhin deutlich sichtbar in ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht leben müssen. Dadurch ist das Potential für Diskriminierungen und Gewalterfahrungen ungleich höher.

„Geschlechtsangleichende Maßnahmen kann man nicht einfach aufschieben“

Aber auch der psychische Leidensdruck und die daraus erwachsenen psychischen Folgeerkrankungen sind ungleich höher, weil ihnen die Schritte verwehrt werden, das äußere Erscheinungsbild ihrer Identität anzugleichen. Die Identität ist ein solch wesentliches Persönlichkeitsmerkmal, dass man gewünschte geschlechtsangleichende Maßnahmen nicht einfach aufschieben kann.

Die Analyse der beiden Juristinnen Maya Markwald und Dr. Lena Kreck ist eine rechtsdogmatische. Das heißt, sie stützt sich allein auf geltende Rechtsnormen. Kannst du ihre Argumentation beziehungsweise die rechtliche Problematik erläutern?

Es gibt im Prinzip zwei Ansätze. Alle Geflüchteten bekommen während des Asylverfahrens Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. In Paragraf 4 ist auch die gesundheitliche Versorgung reglementiert – und in der Praxis für die ersten 18 Monate in Deutschland limitiert: So sind die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzustände sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen ärztlichen Leistungen zu gewähren.

„Trans*-spezifische Maßnahmen werden regelmäßig verwehrt“

Aber damit werden Maßnahmen im Rahmen der trans*-spezifischen Gesundheitsversorgung in der Praxis regelmäßig verwehrt. Die beiden Expertinnen argumentieren, dass dies menschenrechts- und EU-rechtswidrig ist und trans* Personen für ihren besonderen Bedarf einen vollen Zugang zu diesen spezifischen Gesundheitsleistungen benötigen. Ihrer Ansicht nach müssen die Paragrafen des Asylbewerberleistungsgesetzes dementsprechend ausgelegt werden.

Der andere Ansatz betrifft die EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33. Sie definiert in einer nicht abschließenden Aufzählung besonders vulnerable Gruppen von Geflüchteten. LSBTI*-Geflüchtete werden zwar nicht explizit genannt, aber auch nicht ausgeschlossen. In dieser Aufnahmerichtlinie ist eindeutig festgehalten, dass insbesondere der Bedarf an gesundheitlicher Versorgung sowie geschützter Unterbringung während des gesamten Asylverfahrens gewährleistet werden muss.

„Der Bedarf an gesundheitlicher Versorgung muss gewährleistet werden“

EU-Richtlinien sollen immer in einer bestimmten Frist in nationale Gesetzgebung umgesetzt werden. Ansonsten gelten sie nach Ablauf der Frist unmittelbar, wie es bei dieser EU-Aufnahmerichtlinie der Fall ist. Und so ist die Argumentation, dass der Anspruch auf medizinische Behandlung von trans* Geflüchteten über die direkte Anwendung der EU-Aufnahmerichtlinie abgeleitet werden kann.

Interessant bei diesem Ansatz ist zudem, dass das Bundesland Berlin als erste Region in der EU schon 2015 explizit LSBTI*-Geflüchtete als besonders vulnerable Gruppe im Sinne dieser EU-Aufnahmerichtlinie anerkannt und dies ab 2016 auch mit verschiedenen Maßnahmen hinterlegt hat, unter anderem mit der Förderung der Fachstelle für LSBTI*-Geflüchtete.

Thüringen hat das ebenfalls getan, aber leider bislang nicht mit Maßnahmen versehen. Weitere Bundesländer haben zwar einzelne Maßnahmen umgesetzt, aber keine offizielle Anerkennung ausgesprochen.

Das bedeutet, trans* Geflüchtete in Berlin und Thüringen erhalten diese besonderen Gesundheitsleistungen bereits problemlos?

Leider nein. Denn die EU-Richtlinie wurde von Deutschland ja gerade nicht in eine nationale Gesetzgebung überführt. Sie gilt damit zwar unmittelbar, beschreibt aber auch nicht die einzelnen gesundheitlichen Maßnahmen. Genau für diese Herleitung ist die Expertise ja hilfreich.

Sie richtet sich sowohl an behandelnde Ärzt*innen, die sich mit dieser Argumentation hoffentlich eher trauen, die notwendige medizinische Behandlung zu verschreiben, als auch an Rechtsanwält*innen, die ihre trans* Klient*innen bei einer Klage unterstützen.

„Bislang fehlt eine höchstrichterliche Entscheidung“

Um allerdings zu einer grundsätzlichen Wende bei Klagen zu gelangen, fehlt bislang eine höchstrichterliche Entscheidung. Wenn in einer niedrigeren Instanz einmalig positiv entschieden werden sollte, entsteht dadurch kein Regelfall, der automatisch auf alle trans* Geflüchteten angewendet werden kann.

Weshalb gibt es eine solche höchstrichterliche Entscheidung noch nicht?

Das ist natürlich ein Weg, der sehr viel Kraft und Ausdauer benötigt – und eben auch Zeit, um sich gegebenenfalls durch alle Instanzen zu klagen.

Und sobald das Asylbegehren positiv beschieden wird, fällt die betreffende Person aus dem Asylbewerberleistungsgesetz heraus und bekommt die Gesundheitsleistungen regulär über eine Krankenversicherung. Damit würde der Prozess in der Regel obsolet, weil ja ein neuer Leistungsanspruch entstanden ist.

„Wir hoffen, dass mit der Expertise ein Umdenken in Gang gesetzt wird“

Das heißt de facto, dass diese Problematik nie abschließend vor Gericht geklärt werden kann und es daher so einfach kein Grundsatzurteil dazu geben wird.

Das ist die Gefahr, aber natürlich erhoffen wir uns, dass mit einer verbreiteten Übernahme dieser Expertise ein Umdenken in Gang gesetzt wird. Deshalb möchten wir Menschen in der Rechtsberatung etwas an die Hand geben, womit sie rechtlich sicher argumentieren können.

Wenn möglichst viele mit dieser Argumentation klagen und Recht bekommen, könnte das zu einem allgemeingültigen Standard werden.

Der für Geflüchtete einfachere Weg wäre natürlich, wenn sich politisches Handeln in einer angepassten Gesetzgebung und verwaltungsrechtlichen Durchführungsvorschriften wiederfinden, sodass ein Klageweg gar nicht mehr nötig wäre. Das wäre optimal.

Gibt es denn Pläne, auf die Politik und Behörden direkt zuzugehen, um hier grundsätzlich Abhilfe zu schaffen?

Die Fachstelle für LSBTI*-Geflüchtete wird von der „Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung ­– gegen Diskriminierung“ gefördert. Und zwar unter anderem mit dem Auftrag, dass wir mit Stellungnahmen und Expertisen zum Diskriminierungsabbau beitragen – indem wir auf strukturelle Barrieren und Versorgungslücken hinweisen, die uns in der Beratung von LSBTI*-Geflüchteten auffallen.

„Das Asylsystem ist strukturell diskriminierend – und ich befürchte, das ist auch so gewollt“

Wir sind mit anderen Beiträgen und Stellungnahmen in der Vergangenheit auch schon auf viel Wohlwollen in der Berliner Politik und Verwaltung gestoßen und erfolgreich gewesen. Allerdings ist das Asylsystem strukturell diskriminierend – und ich befürchte, das ist von der Bundespolitik auch so gewollt.

Da haben wir zusammen mit anderen Organisationen wirklich dicke Bretter zu bohren und benötigen viel Ausdauer. Zudem entzieht sich vieles der Landespolitik. Daher ist es wichtig zu fragen: Wer macht sich diese Forderung zu eigen und versucht sie umzusetzen? Gibt es den politischen Willen und ist dieser mehrheitsfähig? Ist eine Umsetzung im Landesrecht möglich oder braucht es den Bund? Was ist mit anderen Bundesländern?

„In Berlin sind wir in einer privilegierten Situation“

Wir sind in Berlin mit den hier aufgebauten und geförderten Strukturen ja durchaus in einer privilegierten Situation und erleben das auch als besondere Verantwortung und Chance, auf solche Dinge hinzuweisen und Vorschläge zu machen, wie diese Diskriminierungen, nicht nur in Berlin abgeschafft werden können.

Die Expertise bezieht sich ja auf trans* Geflüchtete im Asylverfahren. Wie ist ihre Situation, sobald sie einen gesicherten Aufenthaltsstatus erhalten haben? Können sie dann diese spezifischen Gesundheitsleistungen unproblematisch bekommen, weil sie dann auch regulär krankenversichert sind?

Unproblematisch nicht, sie unterliegen dann den gleichen diskriminierenden Vorgaben wie alle trans* Personen. Auch diese müssen endlich aufgehoben werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die rechtliche Expertise „Zugang zu trans*spezifischen medizinischen Leistungen für Personen im Asylverfahren“ ist online abrufbar. Sie kann auch in der Print-Version bestellt werden (E-Mail an refugees@schwulenberatungberlin.de)

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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