In der südfranzösischen Stadt wird umgesetzt, was eigentlich überall Gesetz ist: Menschen in Haft haben das Recht auf die gleichen Standards der Gesundheitsversorgung wie „draußen“. So gelingt Einzigartiges: ein Gefängnis ohne Hepatitis C.

Die gesundheitliche Versorgung von Gefangenen ist Aufgabe des Staates. Gefangene sollen den gleichen Standard der Gesundheitsversorgung erhalten, der in der Gesellschaft verfügbar ist, und sollen kostenfrei und ohne Diskriminierung aufgrund ihrer Rechtsstellung Zugang zu den notwendigen Gesundheitsdiensten haben.

Die Gesundheitsdienste sollen in enger Beziehung zum allgemeinen öffentlichen Gesundheitswesen stehen und so organisiert sein, dass die Kontinuität der Behandlung und Versorgung, einschließlich bei HIV, Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten sowie bei Drogenabhängigkeit, gewährleistet ist.“

Diese Grundsätze finden sich in der Regel 24 der Nelson-Mandela-Rules. Sie wurden im Dezember 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und nach dem Kämpfer gegen die Apartheid benannt, der 27 Jahre seines Lebens im Gefängnis saß.

Die Nelson-Mandela-Regeln stellen die aktuelle Fassung der „UN-Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen“ dar.

Die erste Version wurde 1957 vom UN-Wirtschafts- und Sozialrat verabschiedet.

Die Nelson-Mandela-Regeln verpflichten auch Deutschland

Die Regeln sind zwar rechtlich nicht bindend, enthalten aber zahlreiche in anderen völkerrechtlichen Verträgen verankerte und für Deutschland rechtlich bindende Verpflichtungen.

Deutschland ist, zusammen mit Südafrika, sogar Ko-Vorsitzender der „Gruppe der Freund_innen der Nelson-Mandela-Regeln“.

Auch das deutsche Strafvollzugsgesetz schreibt in Paragraf 61 vor, dass die medizinischen Leistungen in Haft den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs entsprechen müssen, also der Versorgung gesetzlich Versicherter „draußen“.

In der Realität sind Gefangene stärker gesundheitlich belastet und schlechter versorgt

Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Die gesundheitliche Belastung von Inhaftierten ist besonders hoch – meist schon vor der Haftzeit. Wesentliche gesundheitliche Probleme in Haft sind chronische körperliche Erkrankungen, psychische Störungen, Suchterkrankungen und Infektionskrankheiten wie HIV und Hepatitis C.

Einschränkungen bei kostenintensiven Behandlungen und der Suchttherapie

Ein Beispiel: In Deutschland wird der Anteil der Menschen mit chronischer Hepatitis C an der sogenannten Allgemeinbevölkerung – ohne Menschen in Haft und mit nicht repräsentativer Vertretung von Drogengebraucher_innen – auf 0,3 Prozent geschätzt.

Bei Gefangenen dagegen liegt er verschiedenen Studien zufolge zwischen 9 und 16 Prozent – nicht zuletzt, weil viele Gefangene vor und auch während ihrer Haftzeit Drogen intravenös konsumieren.

Trotzdem haben Gefangene häufig nur begrenzten Zugang zur gesundheitlichen Versorgung. Einschränkungen bestehen insbesondere bei kostenintensiven Behandlungen von chronischen Krankheiten und in der Suchttherapie.

Ob Behandlung oder Prävention: Die meisten Haftanstalten tun zu wenig

Die Anstalten sagen oft, dass sie bestimmte Behandlungen nicht durchführen können. Zum Beispiel, wenn kein eigenes Krankenhaus, sondern nur eine kleine Ambulanz vorhanden ist oder entsprechend ausgebildetes Personal fehlt. Die dann eigentlich vorzunehmende Verlegung in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzugs erfolgt aber meist nicht.

Ein Beispiel: Laut aktuellen Schätzungen haben rund 6.000 der rund 60.000 Gefangenen in Deutschland eine behandlungsbedürftige Hepatitis C.

Nun war die Behandlung bis 2014 langwierig, nebenwirkungsreich, teuer und in vielen Fällen auch nicht erfolgreich, Gefangene kamen meist nicht in ihren Genuss.

In Deutschland gibt es nur in einer einzigen Haftanstalten sterile Spritzen zum Schutz vor HIV und Hepatitis

Mit den neuen Medikamenten hat sich die Situation aber grundlegend geändert: In über 95 Prozent der Fälle lässt sich eine chronische Hepatitis C heute in maximal drei Monaten heilen.

Trotzdem wird nach wie vor nur ein kleiner Teil der Inhaftierten mit Hepatitis C behandelt – genaue Zahlen gibt es leider nicht.

Auch bei der Prävention von Infektionskrankheiten bestehen große Unterschiede zur Situation draußen: Sterile Spritzen zur Vermeidung des HIV- und Hepatitis-C-Übertragungsrisikos beim Drogengebrauch zum Beispiel gibt es in Deutschland nur in einer einzigen Haftanstalt, der JVA für Frauen in Berlin-Lichtenberg.

Dabei konsumiert ein großer Teil der Gefangenen auch in Haft – manche fangen sogar hier erst damit an.

Montpellier zeigt: Ein Gefängnis ohne Hepatitis C ist möglich

Gefängnisarzt Dr. Fadi Meroueh will an dieser Situation etwas ändern. Er nimmt den ethischen und auch juristischen Grundsatz ernst, dass Gefangene das Recht auf den bestmöglichen Gesundheitszustand haben, und verweist in einer Präsentation auf folgende Zahlen zur Situation in Europa:

  • Pro Jahr sind etwa eine Million Menschen inhaftiert.
  • 15 bis 25 Prozent sitzen wegen drogenbezogener Delikte ein.
  • Etwa eine_r von sechs Gefangenen hat einen problematischen Drogenkonsum, 10 bis 40 Prozent konsumieren regelmäßig intravenös Drogen.
  • Bis zu 20 Prozent der intravenös Drogen Konsumierenden haben im Gefängnis damit begonnen.

„Wir sollten alle Menschen mit chronischer Hepatitis C behandeln“

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat das Ziel ausgegeben, die Hepatitis-C-Epidemie bis 2030 zu beenden. In Frankreich ist die Politik noch ehrgeiziger und will das bis 2025 erreichen.

Damit das gelinge, müsse man vor allem auf Tests und Behandlung für die besonders Betroffenen setzen: „Wir sollten alle Menschen mit chronischer Hepatitis C behandeln, insbesondere Drogengebraucher_innen, denn sie stellen das Reservoir für das Fortbestehen der Epidemie dar“, so Meroueh.

Prävention, Diagnostik und Behandlung auch für Gefangene

In „seiner“ Haftanstalt in Villeneuve-lès-Maguelone bei Montpellier wird daher allen Neuzugängen innerhalb von 24 Stunden ein Test auf HIV, Hepatitis A, B und C, Syphilis sowie Chlamydien angeboten.

Wird eine chronische Hepatitis C festgestellt, kann sofort mit einer Behandlung begonnen werden – in der Regel innerhalb der ersten drei Wochen nach Haftantritt.

Um das HIV- und Hepatitis-C-Risiko zu senken und die mit dem intravenösen Drogenkonsum verbundenen Schäden zu minimieren, bietet das Gefängnis zudem folgende Maßnahmen an:

  • Verfügbarkeit von Präventionsmaterialien (Broschüren, Kondome)
  • Verfügbarkeit von Materialien zum „Bauen“ eines Röhrchens zum Sniefen von Drogen
  • Verfügbarkeit von Safer-Use-Materialien – sterilen Spritzen und Nadeln, Filter sowie Löffel und Wasser zum Aufkochen (gegen den Willen der Gefängnisverwaltung; es gibt dazu keinen „Deal“)
  • Substitutionsbehandlung
  • HIV-PEP (Notfallbehandlung nach einem HIV-Risiko, um eine Infektion doch noch zu verhindern)
  • HBV-Impfung
  • HIV- und Hepatitis-C-Behandlung
  • Vergabe von Naloxon zur Verhinderung von Opioid-Überdosierungen.

Dr. Meroueh und sein Team schaffen es auf diese Weise, dem Ziel eines Hepatitis-C-freien Gefängnisses sehr nahe zu kommen.

Das sollte Ansporn auch für andere Länder sein – etwa für Deutschland.

Weitere Informationen

Wortlaut der UN-Resolution 70/175 mit den Nelson-Mandela-Regeln im Anhang

Strafvollzug im Einklang mit den Nelson-Mandela-Regeln: Eine Checkliste für interne Kontrollmechanismen

Gesundheit in Haft: „Es hakt immer dann, wenn’s teuer wird“ (Beitrag auf magazin.hiv, 8.4.2014)

Offering HCV treatment to prisoners is an important opportunity: key principles based on policy and practice assessment in Europe

Ein Interview mit Dr. Meroueh zu seinem Engagement für die Gesundheit Gefangener und für Hepatitis-C-freie Gefängnisse findet sich hier.

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„Das Gefängnis soll das Recht durchsetzen und es nicht brechen“

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Rekonstruktion eines Skandals

Über

Holger Sweers

Holger Sweers, seit 1999 als Lektor, Autor und Redakteur bei der Deutschen Aidshilfe, kümmert sich um die Redaktionsplanung des Magazins.

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