2017 im Rückblick: Meilensteine, prägende Ereignisse und Debatten
Januar
Hepatitis-A-Ausbruch bei schwulen Männern
Eine auffällig hohe Zahl gemeldeter Hepatitis-A-Erkrankungen bei schwulen Männern in Berlin führt zum Jahresbeginn beim Robert Koch-Institut zu Besorgnis. Lokale Testeinrichtungen – und auch die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) und ihre IWWIT-Kampagne – machen deshalb verstärkt auf die empfohlene Schutzimpfungen aufmerksam. Im Laufe des Jahres melden weitere europäische Großstädte Häufungen von Hepatitis-A-Fällen unter Männern, die Sex mit Männern haben (MSM). Das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) führt die Ausbreitung unter anderem auf Reisen zu Szene-Großereignissen wie Christopher-Street-Day-Paraden zurück.
Neue Gesetze zur Pflege und Teilhabe
Mit Jahresbeginn treten zwei Gesetze in Kraft, die für Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung von großer Bedeutung sind. Weitgehend enttäuschend fällt das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) aus. Zwar sind die Freibeträge auf Erwerbseinkommen für Menschen in Eingliederungshilfe angestiegen, aber bei Weitem nicht so hoch, dass sie für eine private Altersvorsorge ausreichen. Befürchtet wird auch, dass Menschen – allein aus Kostengründen – früher als eigentlich notwendig und gewünscht in Heimen unterbracht werden könnten.
Mit dem Pflegestärkungsgesetz II/III wird die Pflegeversicherung grundlegend reformiert. Galten zuvor lediglich Menschen mit körperlichen Gebrechen als pflegebedürftig, werden nun auch geistige Probleme wie Demenz berücksichtigt. Die Pflegebedürftigkeit wird außerdem in fünf Pflegegrade eingeteilt, die in sechs Lebensbereichen (wie zum Beispiel Mobilität und Selbstversorgung) ermittelt werden.
Februar
Deutlicher Rückgang bei HIV-Neuinfektionen
Erfolgsmeldung aus den USA: Nach Angaben der Gesundheitsbehörde CDC ist in den Vereinigten Staaten die Zahl der HIV-Neuinfektionen von 2008 bis 2014 um 18 Prozent gesunken. Zu dieser positiven Entwicklung beigetragen haben vor allem die wachsende Zahl der HIV-Infizierten, die von ihrer Infektion wissen, sowie derjenigen, die aufgrund der Therapie HIV nicht mehr weitergeben können. Zudem könnte die PrEP (kurz für Prä-Expositions-Prophylaxe, etwa „Vor-Risiko-Vorsorge“), die seit 2012 in den USA zugelassen ist, einen Beitrag zu diesem Rückgang geleistet haben.
Im Laufe des Jahres folgen noch andere Länder mit ähnlichen guten Nachrichten:
In Australiens größtem Bundesstaat New South Wales gab es im ersten Halbjahr 2017 fast 40 Prozent weniger HIV-Diagnosen bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), als im Durchschnitt der sechs Jahre zuvor – das ist die niedrigste Zahl seit 1985. In Großbritannien wurden 2016 rund 21 Prozent weniger HIV-Infektionen bei MSM diagnostiziert als 2015; in der Gesamtbevölkerung lag der Rückgang im selben Zeitraum bei 18 Prozent.
Auch in diesen Ländern zählt man die gestiegene Nutzung von Testangeboten (vor allem bei schwulen und bisexuellen Männern) und die wachsende Zahl der Positiven in Behandlung zu den maßgeblichen Gründen. Aber auch die HIV-PrEP führt vor allem bei MSM offenbar zu einem deutlichen Rückgang der HIV-Übertragungen.
Dritte HIV-Infektion unter PrEP
Ein Teilnehmer der großangelegten Amsterdamer PrEP-Studie (AmPrEP) hat sich trotz korrekter Einnahme des Medikaments Truvada mit HIV infiziert. Dieser im Rahmen der Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections (CROI) vorgestellte Fall ist die bislang dritte dokumentierte HIV-Übertragung unter der PrEP. Solche Infektionen sind extrem selten, sie zeigen aber: Die PrEP bietet zwar einen hohen, aber keinen 100-prozentigen Schutz vor HIV.
März
Zwang zur Sterilisation für trans* Menschen verletzt Menschenrechte
Trans* Menschen, die ihre gewünschte Geschlechtszuordnung anerkennen lassen wollen, dürfen nicht mehr zur Sterilisation oder einer medizinischen Behandlung gezwungen werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Unfruchtbarkeit führt. Dies entscheidet im März der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Begründung, dass ein solcher Zwang gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoße. Etliche europäische Länder, in denen diese Praxis noch nicht abgeschafft wurde, müssen ihre Gesetze nun dem Urteil entsprechend anpassen.
April
Deutschlandpremiere von „Ein Tag im Leben“
In Berlin feiert der außergewöhnliche Dokumentarfilm „Ein Tag im Leben“ seine bejubelte Deutschlandpremiere. Die internationale Koproduktion begleitet acht Drogen gebrauchende Menschen aus Berlin, Budapest, Jakarta, Lagos, Mexico City, New York und Simferopol auf der Krim für 24 Stunden durch ihr Leben. Produziert hatten den Film Drogengebraucher_innen und Menschenrechtsaktivist_innen des Netzwerks „f1.4 Video for Drug Policy Reform Network“ der Rights Reporter Foundation.
Freispruch wegen „Schutz durch Therapie“
Das Kölner Amtsgericht spricht einen HIV-positiven Mann von dem Vorwurf der versuchten gefährlichen Körperverletzung frei. Der 42-Jährige war von zwei Frauen angezeigt worden, nachdem er mit ihnen Geschlechtsverkehr ohne Kondom hatte und ihnen erst hinterher seine HIV-Infektion mitteilte.
Das Gutachten eines HIV-Experten überzeugt das Gericht: Da sich die Viruslast des Angeklagten aufgrund der HIV-Therapie unter der Nachweisgrenze befindet, kann HIV auch beim Sex ohne Kondom nicht weitergegeben werden. „Wir haben heute viel über medizinischen Fortschritt gelernt“, hebt der vorsitzende Richter in seiner Urteilsbegründung hervor und lobt den Beschuldigten zudem für seine konsequente Therapietreue als „Musterpatienten“.
IWWIT-Themenseite „Schwul. Trans*. Teil der Szene“
Am Internationalen Tag zur Sichtbarkeit von trans* Menschen geht die neue Themenseite „Schwul. Trans*. Teil der Szene!“ der DAH-Präventionskampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“ (IWWIT) online. Die unter Mitwirkung verschiedener Trans*-Organisationen und Einzelpersonen erstellte Website richtet sich sowohl an schwule trans* als auch cis Männer. Sie bündelt Informationen – zum Beispiel zur Transition (Angleichung, Übergang) und zu Safer Sex – sowie Statements von Rollenmodellen. Außerdem hilft eine Karte bei der Suche nach Beratungsstellen.
Mai
Bundesrat stimmt Neuregelung der Substitutionstherapie zu
Mit der Novelle der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV), die unter anderem die rechtlichen Rahmenbedingungen der Behandlung von Opiatabhängigen mit Substitutionsmedikamenten festlegt, erhalten substituierende Ärzt_innen endlich mehr Rechtssicherheit. Die früheren Regelungen hatten Substitutionsmediziner_innen immer wieder Strafandrohungen wegen der Überlassung eines Betäubungsmittels ausgesetzt – ein Grund, warum immer weniger Ärzt_innen bereit waren, Drogengebraucher_innen zu substituieren. Mit der neuen BtMVV wird die Strafbewehrung aufgehoben. Darüber hinaus wird die Versorgung insgesamt flexibler und die Patient_innen erhalten mehr Selbstbestimmung.
Bericht zur Drogensituation in Deutschland
1.333 „rauschgiftbedingte Todesfälle“ – und damit 9 Prozent mehr als im Vorjahr – wurden 2016 in Deutschland registriert. In ihrem gemeinsamen Bericht zur Rauschgiftlage führen die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Marlene Mortler (CSU) und das Bundeskriminalamt diesen erneuten Anstieg der Todesfallzahl auf den wachsenden Konsum von Legal Highs, auf steigende Stoffqualität und sinkende Preise zurück. Ganz anders Björn Beck vom Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe: „Hauptgrund ist die Drogenpolitik im Bund und in vielen Ländern, die auf verschiedene lebensrettende Maßnahmen bewusst verzichtet.“
Auftakt „Kein AIDS für alle!“
Ab dem Jahr 2020 soll in Deutschland niemand mehr an Aids erkranken müssen. Mit einem Auftaktsymposium und diesem historischen Ziel vor Augen startet im Mai die auf drei Jahre angelegte DAH-Kampagne „Kein AIDS für alle!“.
HIV muss nicht mehr zu Aids führen, dennoch erkranken in Deutschland jährlich über 1.000 Menschen an der Immunschwächekrankheit – die meisten, weil sie nichts von ihrer HIV-Infektion wissen. Die DAH setzt im Rahmen ihrer Kampagne deshalb an verschiedenen Stellen gleichzeitig an, um ganz unterschiedliche Menschen zu erreichen und mit frühzeitigen HIV-Tests und rechtzeitiger Behandlung Aids-Erkrankungen zu verhindern.
Nur wenige Tage nach dem Kampagnenstart trifft sich UNAIDS-Direktor Michel Sidibé in Berlin mit Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD), Vertreter_innen der Berliner Aids-Hilfe, der Deutschen AIDS-Hilfe und des Aktionsbündnisses gegen AIDS. Thema des Gesprächs ist die Frage, wie die Maßnahmen gegen HIV und Aids in Berlin, Deutschland und weltweit noch intensiviert werden können. Sidibé dankt außerdem der Stadt Berlin für die Beteiligung an der Fast-Track-Cities-Initiative.
„Vielfalt gegen rechts – für eine offene Gesellschaft!“
„Die Vielfalt ist ein sicherer Ort für alle“ lautet der Titel eines gemeinsamen Appells von LSBTI*-Organisationen für eine offene, respektvolle Gesellschaft – veröffentlicht am Internationalen Tag gegen Homo- und Transphobie. Vor dem Hintergrund wachsender Angriffe auf die Rechte und die Freiheit von LSBTI* (Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans* und inter* Menschen) durch die AfD und Organisationen wie „Demo für alle“ rufen die Initiator_innen der Erklärung dazu auf, diesen Entwicklungen entschieden entgegenzutreten. Unterzeichnet haben unter anderem die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD), die DAH sowie zahlreiche regionale Aidshilfen.
Juni
IWWIT startet Testkampagne „Macht doch jeder!“
„Du bist ein wilder Stecher, lässt dich aber nicht piksen?“ – mit solchen doppeldeutigen und provokanten Fragen startet ICH WEISS WAS ICH TU (IWWIT) eine breit angelegte Kampagne, mit der bei schwulen Männern für mehr Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem HIV-Test geworben werden soll. Auf der eigens dafür entwickelten Website www.macht-doch-jeder.de sind die wichtigsten Infos rund um den HIV-Check sowie eine Servicekarte mit über 400 Teststellen in Deutschland zu finden.
Rehabilitierung der Opfer des Paragrafen 175
Über Jahrzehnte hatten LSBT-Verbände und -Initiativen für die Rehabilitierung und Entschädigung der nach §175 des Strafgesetzbuchs verurteilten homo- und bisexuellen Männer gekämpft. Im Juni 2017 wird schließlich ein von Bundejustizminister Heiko Maas auf den Weg gebrachtes Gesetz verabschiedet. Alle nach 1945 und bis zur Abschaffung des sogenannten Schwulenparagrafen im Jahr 1994 ergangenen Verurteilungen werden damit aufgehoben. Die noch lebenden Männer, die aufgrund homosexueller Handlungen verurteilt wurden, erhalten die Möglichkeit, eine Entschädigung zu beantragen. Darüber hinaus sieht das Gesetz eine Art Kollektiventschädigung in Form einer jährlichen institutionellen Förderung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld vor.
Live-Chat-Beratung für schwule Männer gestartet
Im Juni geht www.health-support.de online – das neue Chat-Portal der Deutschen AIDS-Hilfe für alle Fragen rund ums schwule Leben und die sexuelle Gesundheit. Täglich zwischen 17 und 20 Uhr bieten Mitarbeiter aus über 30 regionalen Aidshilfen Beratung per Live-Chat an – vertraulich, kompetent und kostenlos.
Dauerhafte Hilfe für „Blutskandal“-Opfer
Nach einem neuen Gesetz werden ab 2019 die finanziellen Unterstützungsleistungen der Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierter Personen“ allein durch den Bund getragen. Damit ist die Hilfe für die Menschen, die in den Achtzigerjahren durch Blutprodukte mit dem HI-Virus infiziert wurden, dauerhaft sichergestellt. Hepatitis-C-Infizierte jedoch erhalten weiterhin keine Entschädigungsrente.
„Ehe für alle“
Am 30. Juni knallen im Bundestag die Sektkorken: Die Mehrheit der Abgeordneten stimmt für die „Ehe für alle“. Ab dem 1. Oktober 2017 können somit auch schwule und lesbische Paare den Bund der Ehe eingehen.
Juli
„Opposites Attract“: Weiterer Beleg für Schutz durch Therapie
Auf der 9. Konferenz der Internationalen AIDS-Gesellschaft (IAS 2017) in Paris werden die Ergebnisse von „Opposites Attract“ vorgestellt. Die von der University of New South Wales durchgeführte Studie mit 343 schwulen „serodifferenten“ Paaren aus Australien, Bangkok und Rio liefert einen weiteren Beleg dafür, dass eine wirksame HIV-Therapie vor sexueller HIV-Übertragung schützt: Im Studienzeitraum hatten die Paare, von denen jeweils ein Partner HIV-positiv war und eine Viruslast unter der Nachweisgrenze hatte, fast 17.000 Mal Analverkehr ohne Kondom. Trotzdem kam es dabei zu keiner einzigen HIV-Übertragung.
„Opposites Attract“ untermauert damit auch die ebenfalls in Paris vorgestellte Kampagne „U = U / Undetectable equals Untransmittable“ (nicht nachweisbar = nicht übertragbar). Sie will HIV-positive Menschen weltweit dazu ermutigen, eine HIV-Behandlung zu beginnen oder fortzusetzen, ihnen die Angst vor einer sexuellen HIV-Übertragung nehmen und zum Abbau des HIV-Stigmas beitragen.
PaSuMI: Projekt zu Sucht und Migration gestartet
Gemeinsam mit Einrichtungen der Suchthilfe und Suchtprävention, mit Projekten für Sexarbeiter_innen, Migrantenselbstorganisationen und Aidshilfen wird das DAH-Projekt PaSuMi gestartet. Das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte und auf zweieinhalb Jahre angelegte Modellprojekt mit acht teilnehmenden Einrichtungen soll Diversity-orientiert und partizipativ Maßnahmen der Suchtprävention und Suchthilfe für und mit Migrant_innen entwickeln.
Prostituiertenschutzgesetz tritt in Kraft
Bis zuletzt versuchen Nichtregierungsorganisationen, Expert_innen, Sozialverbände und zuletzt auch das Europäische Komitee von Sexarbeiter_innen das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz zu verhindern – jedoch erfolglos. Am 1. Juli tritt das umstrittene Gesetz in Kraft – mit einer Übergangsfrist bis zum 31.12.2017. Es schreibt unter anderem allen in der Sexarbeit Tätigen vor, sich jährlich beziehungsweise halbjährlich einer Gesundheitsberatung zu unterziehen, sich bei der jeweils zuständigen Behörde persönlich zu registrieren und die Bestätigung dieser Registrierung („Hurenpass“) immer bei sich zu führen. Länder und Kommunen, die für die Umsetzung zuständig sind, klagen über fehlende Vorbereitungszeit, Kritiker_innen befürchten ein Chaos.
August
Safer Sex heute
Die überarbeitete Safer-Sex-Seite auf aidshilfe.de nennt erstmals Kondome, Schutz durch Therapie und die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) als gleichrangige Safer-Sex-Methoden. Die wenig später auf magazin.hiv veröffentlichte Reportage „Safer Sex geht auch anders“ ist einer der meistgeklickten Artikel dieses Jahres und löst auch lebhafte Diskussionen auf Facebook aus.
„Vielfalt gegen rechte Einfalt“
Die ehemalige Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth, der Comic-Zeichner Ralf König, Rapperin Sookee – sie alle beteiligen sich an der Social-Media-Kampagne „Vielfalt gegen rechte Einfalt“, um damit mit Blick auf die Bundestagswahlen ein Zeichen gegen das Erstarken populistischer Kräfte und für ein respektvolles Miteinander zu setzen. Neben großem positivem Feedback – etwa für das Interview mit der Autorin Carolin Ehmcke – gibt es in den Sozialen Medien aber auch reichlich kritische Kommentare. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin nimmt drei der darin immer wiederkehrenden Argumente auseinander und zeigt ihren antimuslimischen und rassistischen Charakter auf.
CSU Bayern setzt sich für ein Naloxon-Modellprojekt ein
2016 starben 321 Menschen in Bayern infolge ihres Drogenkonsums – so viele wie in keinem anderen Bundesland. Die CSU will nun endlich etwas gegen diesen Negativrekord tun: mit einem auf zwei Jahre angelegten Modellprojekt zur Vergabe des Notfallmedikaments Naloxon an medizinische Laien. Erprobte lebensrettende Maßnahmen wie Drogenkonsumräume bleiben aber tabu.
Lockerung beim Blutspende-Ausschluss für homosexuelle Männer
Schwule und bisexuelle Männer, die bislang gänzlich von der Blutspende ausgeschlossen waren, dürfen nunmehr Blut abgeben – allerdings nur, wenn sie ein Jahr lang enthaltsam gelebt haben.
Die neu formulierte Richtlinie der Bundesärztekammer schafft die bisherige Diskriminierung von Männern, die Sex mit Männern haben, also nicht ab, sondern schafft lediglich eine neue. „Eine HIV-Infektion kann man heute sechs Wochen nach dem letzten Risiko sicher ausschließen. Diese Frist wäre nachvollziehbar. Eine Frist von einem Jahr schließt die meisten schwulen und bisexuellen Männer weiterhin unnötig von der Blutspende aus. Das ist nicht mehr als Kosmetik und eine Unverschämtheit“, bringt es DAH-Vorstand Björn Beck auf den Punkt.
September
Truvada-Generika ermöglichen eine preiswerte PrEP
Nach der Einführung von Nachahmerpräparaten des HIV-Medikaments Truvada ermöglicht der Kölner Apotheker Erik Tenberken mit einem besonderen Vertriebsmodell die Abgabe des Generikums der Firma Hexal nur für die PrEP zu einem stark verbilligten Preis: 28 Tabletten kosten nur noch rund 50 Euro (statt etwa 800 Euro für das Originalpräparat). Damit wird ein breiterer Zugang zur PrEP ermöglicht. Im Rahmen des Berliner Kongresses „HIV im Dialog“ wird Tenberken deshalb für sein außerordentliches Engagement im Kampf gegen HIV und Aids mit dem Reminders Day Award ausgezeichnet.
Oktober
Konferenz zu HIV in Osteuropa
In der Landesvertretung Baden-Württembergs beraten bei der Berliner Fachkonferenz „HIV in Osteuropa – Die unbemerkte Epidemie?!“ rund 80 Fachleute aus Politik, Zivilgesellschaft und HIV-Selbsthilfe – darunter UNAIDS-Vize Luiz Loures und der Leiter des Nationalen AIDS-Zentrums in Russland, Vadim Pokrovsky –, wie angesichts steigender HIV-Neuinfektionen in Osteuropa die HIV-Prävention und -Behandlung wirksam vorangetrieben werden können.
Startschuss für WAT-Kampagne 2017
Zum Auftakt der Kampagne zum Welt-Aids-Tag 2017 präsentieren sich die HIV-positiven Protagonist_innen so selbstbewusst wie noch nie.
Anlässlich des Kampagnenstarts betont Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe die Notwendigkeit, auch weiterhin „über die Krankheit zu informieren und so Ängste und Unsicherheiten im Umgang mit HIV-infizierten Menschen abzubauen, damit ein vorurteilsloses Zusammenleben zur Selbstverständlichkeit wird.“
November
Bundesverfassungsgericht verlangt drittes Geschlecht im Geburtenregister
Der Gesetzgeber muss das deutsche Geburtenregister künftig besser auf Intersexuelle zuschneiden. Wenn – wie bisher – ein Geschlecht eingetragen wird, dann braucht es neben den Möglichkeiten „weiblich“ und „männlich“ eine dritte Option, urteilte das Bundesverfassungsgericht.
Der Gesetzgeber hat nun bis Ende 2018 Zeit, das Personenstandsrecht zu ändern und einen dritten Geschlechtseintrag wie etwa „inter“ oder „divers“ zu schaffen. Seit 2013 bestand zwar bereits die Möglichkeit, die Eintragung im Geburtenregister offen zu lassen, wenn das Geschlecht eines Neugeborenen nicht eindeutig zuzuordnen ist. Für die Karlsruher Richter_innen ist dies allerdings keine ausreichende Lösung. „Der Personenstand ist keine Marginalie“, heißt es in dem Beschluss. „Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die individuelle Identität herausragende Bedeutung zu.“
Neuer DAH-Vorstand gewählt
Die Deutsche AIDS-Hilfe wählt bei ihrer jährlichen Mitgliederversammlung in Mannheim turnusgemäß einen neuen Bundesvorstand. Manuel Izdebski hat sich nach zwei Amtszeiten nicht wieder zur Wahl gestellt. Neu im Vorstand ist der Geschäftsführer der AIDS-Hilfe Sachsen-Anhalt, Sven Warminsky.
Außerdem gehören dem Vorstand für die nächsten drei Jahre an: Björn Beck (Frankfurt am Main), Ulf Hentschke-Kristal (Bielefeld), Winfried Holz (Berlin) und Sylvia Urban (Dresden).
Dezember
BZgA-Umfrage zur Einstellung der Bevölkerung zu HIV/Aids
Eine repräsentative Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung offenbart erschreckende Berührungsängste mit HIV-Positiven sowie große Wissenslücken im Hinblick auf die Wirksamkeit der HIV-Behandlung. Dass unter einer erfolgreichen Behandlung HIV beim Sex ohne Kondom nicht mehr übertragbar ist, weiß nur jede_r Zehnte.
Ein Viertel der rund 1.000 Befragten hat Bedenken, dieselbe Toilette wie eine HIV-positive Person zu benutzen, und 15 % scheuen sich, einen HIV-positiven Menschen zu umarmen.
„120 BPM“ im Kino
Das Kinohighlight des Jahres kommt aus Frankreich. Mit emotionaler Wucht und nah an der Realität zeigt Filmemacher und Aktvist Robin Campillo in seinem beim Filmfestival von Cannes prämierten Drama „120 BPM“ die Auswirkungen der Aidskrise Anfang der 90er-Jahre und den couragierten Kampf der Pariser ACT-UP-Aktivist_innen.
Fast-Track City Berlin
Ihren ersten eigenen Doppelhaushalt nutzt die rot-rot-grüne Regierung Berlin für starke Akzente in der Drogenpolitik (zum Beispiel die Einrichtung zweier neuer Drogenkonsumräume und einer weiteren Ambulanz für die Diamorphinbehandlung) sowie in der HIV- und Aids-Prävention. Im Rahmen der „Fast-Track Cities Initiative To End Aids“ stellt der Senat für die Jahre 2018 und 2019 insgesamt 2,1 Millionen Euro bereit. Geplant ist zum einen ein PrEP-Modellprojekt, mit dem die Prä-Expositions-Prophylaxe Geringverdienenden aus besonders von HIV gefährdeten Bevölkerungsgruppen zugänglich gemacht werden soll, sowie der Ausbau von niedrigschwelligen Test- und Behandlungsprojekten für Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) – insbesondere auch für MSM mit Migrations-, Flucht- und/oder Drogenerfahrung.
Zudem sieht der neue Berliner Doppelhaushalt pro Jahr 1,5 Millionen Euro für eine Clearingstelle für die medizinische Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung vor. Diese prüft, ob es reguläre Möglichkeiten gibt, eine nötige Behandlung (z.B. auch eine HIV-Therapie) zu bezahlen – falls nicht, wird ein anonymer Krankenschein ausgestellt und ein Notfallfonds kommt zum Tragen.
Ehrungen und Auszeichnungen
Der Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Martin Dannecker wird im Herbst 2016 für seine herausragende Lebensleistung und seine Arbeiten zu Sexualität sowie zu Homosexualität, HIV und die Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten zum Ehrenmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe ernannt. Vollzogen wird die Ehrung im Mai 2017 beim Auftaktsymposium zur DAH-Kampagne „Kein Aids für alle!“.
Der Kölner Mediziner Prof. Dr. med. Jürgen Rockstroh wird im März 2017 für sein langjähriges Engagement im Bereich HIV und Aids sowie Hepatitis mit dem Verdienstkreuz am Bande geehrt.
Auch der Gesundheitswissenschaftler und Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Prof. Dr. Rolf Rosenbrock erhält das Bundesverdienstkreuz. Er wird für sein Wirken in der Gesundheitsförderung sowie in der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Gesundheitsforschung geehrt.
Nachrufe
Im Juli 2017 verstirbt Andrea Görmer, die sich als Mitglied des Landesvorstands der AIDS-Hilfe Hessen und als Geschäftsführerin der AIDS-Hilfe Kassel hohe Verdienste um die Entwicklung von Strukturen erworben hat.
In Berlin verstirbt im Mai Chaim Jellinek, ein prägender und über die Stadtgrenzen hinaus geschätzter Suchtmediziner. Er gehörte zu den ersten Ärzt_innen Deutschlands, die die Methadonvergabe an heroinabhängigen Patient_innen ermöglichten, war Mitbegründer der Ambulanz für integrierte Drogenhilfe (a.i.d.) sowie ein engagierter Unterstützer der Substitutionsbehandlung.
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