„In dir leuchtet ein Stern“
„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids– und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.
Meine erste Begegnung mit Jörg Vathke war im Herbst 1987, als ich mich für die Jugendaufklärungsarbeit in der Kölner Aidshilfe interessierte. Er kam direkt zur Sache: „Wie denkst du über Schwule?“ und „Hast du Berührungsängste zu HIV-Positiven?“ Phrasen konnte Jörg nicht ausstehen. Er forderte klare Haltung bei sich und bei anderen.
Es passte mit uns, obschon unsere von Widersprüchen geprägten Lebenssituationen auf den ersten Blick so unterschiedlich schienen. Jörg mit pastoral-katholisch geprägtem Hintergrund, Tag und Nacht libertinär, offenherzig schwul, promisk, beruflich ehrgeizig, engagiert – und ich Mutter zweier Jungs im Kindergartenalter, unverheiratet, fest gebunden, frauenpolitisch bewegt im täglichen Wettlauf zwischen Familie und Beruf(ung).
Wir kamen miteinander zurecht, weil wir ein selbstbestimmtes Leben, Bildung und Reflexion von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen im Laufe unserer Leben schätzen gelernt hatten.
Die Schüler hörten ihm mit offenen Ohren, großen Augen und roten Backen zu
Für Jörg war Selbstbestimmung in jeder Hinsicht immens wichtig, auch wenn es um die Rechte und Interessen von Jugendlichen und die damit verbundenen Pflichten für Erwachsene ging. Vielleicht erklärt sich so sein Erfolg in der Aufklärungs- und Präventionsarbeit für junge Leute. Ich erinnere mich an Infoveranstaltungen mit oft mehr als hundert Schüler_innen im Alter zwischen 14 bis 17 Jahren. Für sie meist ungewohnt, sprach Jörg ganz selbstverständlich über Sexualität, unterschiedliche (sexuelle) Identitäten, respektvolles Verhalten und Akzeptanz und natürlich auch über HIV und Aids. Sie hörten ihm mit offenen Ohren, großen Augen und roten Backen zu. Meist war es so leise, dass ein Mikrofon überflüssig wurde.
Die Jugendlichen spürten, dass Jörg sie in ihrer Lebenssituation ernst nahm. Folgerichtig war für ihn daher auch die „Aufklärung“ ihrer Ansprechpersonen im Alltag – Eltern, Erzieher_innen oder Lehrer_innen – notwendig. Er machte aber auch vor der Schulverwaltung, dem Jugendamt oder den Verantwortlichen in der Jugend- und Schulpolitik nicht halt. Sein Anliegen war auch hier, Wissen zu fördern, humanistische Impulse zu setzen und dadurch die Auseinandersetzung mit Vorurteilen anzuregen.
Konsequent und mit frechem Charme
Durch seine authentische Art, auf Menschen zuzugehen, war er bei denen, die als „Multiplikator_innen“ wirken sollen, geachtet. Dabei schonte er sie nicht, er hinterfragte ihre Einstellungen und ging konsequent und mit frechem Charme in die Konfrontation mit ihren Vorurteilen. Insbesondere in zur Toleranz verpflichteten akademischen Kreisen wurde die Diskussion über Angst und Vorurteile im Kontext von HIV und Aids bisweilen für überflüssig gehalten. Dann zeigte Jörg den Film „The Times of Harvey Milk“. Nach irritiertem Schweigen kam es hinterher oft zu intensiven und persönlichen Gesprächen.
Als das Virus sich im Freundes- und Kollegenkreis immer weiter ausbreitete, konzentrierte sich Jörg ganz auf die Arbeit in schwulen Szenen. Mit seinen praktischen Erfahrungen entwickelte er eigene Vorstellungen von erfolgreicher Prävention: Sich an den Orten schwulen Lebens von Gleich zu Gleich direkt an die Männer richten, ihr Selbstbewusstsein stärken, Wirte und Saunabetreiber einbeziehen und zugleich energische Lobbyarbeit in Politik und Medien – das alles gehörte zu seinem Konzept, das bis heute die facettenreiche Prävention von Aidshilfen prägt.
Besondere Gabe zur Grenzüberschreitung
Zu Jörgs herausragenden Fähigkeiten gehörte es, die Perspektiven zu wechseln. Dadurch verstand er es wunderbar, Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen, gesellschaftlichen Positionen und Funktionen zusammen- und ins Gespräch zu bringen. Vielleicht kam diese besondere Gabe zur „Grenzüberschreitung“ bei ihm durch seine Kindheit und Jugend im Dreiländereck Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen. Er nutzte sie jedenfalls sehr gerne in den damals recht hitzig geführten Debatten, in denen er sehr konsequent die „Süssmuthlinie“ vertrat. Um in Köln auf dem aktuellen Wissensstand zu bleiben, holte er führende Köpfe, unter anderem Sophinette Becker, Michael Bochow, Martin Dannecker, Siegfried Dunde, Gisela Bleibtreu-Ehrenberg oder Rolf Rosenbrock, die er auch schon mal mit Vertreter_innen der katholischen Kirche aufs Podium bat.
Es passierte damals so viel gleichzeitig. Freunde oder Kollegen infizierten sich, erkrankten im Zeitraffer, litten und starben. Es gab kaum Hoffnung auf wirksame medizinische Behandlung, bestenfalls Versuchsansätze. Irrationale Ängste, menschenfeindliche Einstellungen, persönliche Anfeindungen und Verunglimpfungen aus der Politik, der Bevölkerung, in der Nachbarschaft oder Verwandtschaft.
Seine Botschaft: Ich bin krank und nicht schuld
Jörg blieb am Ball, auch mit seiner sich rasant und brutal entwickelnden Immunschwäche. Er ging offen mit der Infektion um, auch als die Krankheit sichtbar war. Ein Rückzug ins Private kam für ihn nicht infrage. Er ging zu Sitzungen, Veranstaltungen, zu Feiern oder in die Kneipe, auch noch im Rollstuhl. In dieser Zeit drehte er noch einen BZgA-Spot, in dem er einer Freundin und ihrem kleinen Sohn erzählt, wie es ihm geht. Seine Botschaft: Ich bin krank und nicht schuld. Den Alltag zu teilen, auch mit Kindern, ist kein Risiko, aber mir tut es so gut.
Es war so schwer, sein Leid anzusehen, weil es wenig Tröstliches gab. Da sein, Fluppe anzünden oder einen Darjeeling miteinander schlürfen. Dann ging alles viel zu schnell. Eigentlich wollte Jörg noch seine Arbeit zu Papier bringen. Dazu kam es nicht mehr. Er hatte Glück, sein Liebster war bis zum letzten Atemzug an seiner Seite.
Motivsocken mit Märchenfiguren
Zu Jörgs 20. Todestag am 19. Oktober 2012 traf sich sein Freundeskreis. Wir erinnerten uns an seine genialen Motivsocken mit Märchenfiguren oder auch schon mal einem strammen Kerl, riefen uns seine Lieblingswitze ins Gedächtnis, sangen ihm Georg Roths Lied „In dir leuchtet ein Stern“ und tranken dann einige Kölsch in einer seiner Lieblingskneipen. Wir sinnierten, wie gern Jörg gelebt hatte. Und wenn er überlebt hätte, wie er wohl mit dem Älterwerden zurechtkäme.
Wirklich so schade, ich hätte ihn gerne beim Älterwerden beobachtet. Dabei bin ich mir sicher, er hätte auch diese Herausforderung mit seinem rotzigem Humor und BISS angenommen.
Heidi Eichenbrenner war von 1989 bis 2014 hauptamtlich in der Aidshilfe Köln beschäftigt und ist heute ehrenamtliche Beirätin.
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