Marteniza
Frohes Märzchen: Liebe, Gesundheit, langes Leben! (Foto: themightyquill/Wikimedia Commons)

HIV-Aufklärung und -Prävention unter bestimmten Migrantengruppen wie zum Beispiel Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter mit Migrationshintergrund  wird oft nicht nur durch strukturelle, sondern auch durch sprachliche und kulturelle Hürden erschwert. Ein großer Teil der Stricher und der weiblichen Prostituierten nicht nur in Berlin stammt aus Rumänien und Bulgarien. Von dort stammt auch die Tradition der Marteniza („Märzchen“) – ein Talisman, der den Menschen Gesundheit und ein langes Leben bescheren soll. Von Kriss Rudolph

„Märzchen“ sind eine beliebte Tradition auf dem Balkan, gut tausend Jahre alt: ineinander geflochtene weiß-rote Bändchen aus Wollfäden, die man als Armband trägt oder sich auf Herzhöhe an die Jacke steckt, ähnlich wie eine Aids-Schleife. Dieser Talisman symbolisiert Liebe, Gesundheit, ein langes Leben. Das drückt sich auch in den Farben aus: rote Wangen, weißes Haar, hohes Alter. Vergleichbar dem Ying und Yang lässt sich das auch als Symbiose von Gegensatzpaaren verstehen: Mann und Frau, Leben und Tod.

Marteniza: Auf dem Balkan fast wie Weihnachten

Verschenkt wird dieser Schmuck traditionell ab dem 1. März bis zur Monatsmitte – gern im ganzen Freundeskreis per Briefchen oder Postkarte verschickt. In Deutschland mag der Brauch ein wenig an den Valentinstag erinnern, hat aber auf dem Balkan eher die Bedeutung wie Weihnachten, sagt der Rumäne Dorin Imbrescu – so stark ist es in der Kultur verwurzelt. „Von dort kommen viele Leute mit großen Erwartungen und dem Traum von einem besseren Leben nach Deutschland“, so Imbrescu weiter, der ehrenamtlich für die Berliner Aids-Hilfe arbeitet.

Er ist sogenannter MuMM-Multiplikator und kennt die Lebenswelten, Bedürfnisse und Probleme seiner Landsmänner und -frauen sehr gut. Im Rahmen des MuMM-Projektes (Migrantinnen und Migranten als Multikplikatoren in der HIV/STI-Prävention) ist auch seine Idee entstanden, die alte Marteniza-Tradition im Sinne der Aufklärung und des Gesundheitsschutzes für Migranten aus dem Balkan zu nutzen. Ein großer Teil der Stricher und der weiblichen Prostituierten kommt nämlich aus Bulgarien und Rumänien, wie Projektkoordinatorin Tanja Gangarova von der Deutschen AIDS-Hilfe erklärt.

„Die lokalen Projekte mit und für Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern berichten mir, dass der Anteil der Frauen und Männer aus Bulgarien und Rumänien in dieser Gruppe in vielen deutschen Städten fast bei 80 Prozent liegt. Ich habe neulich selber einige Bordelle im Berliner Bezirk Moabit besucht und lange Gespräche mit den bulgarischen Frauen geführt – bin ja selber Bulgarin. Als EU-Bürgerinnen genießen sie zwar ein Aufenthaltsrecht, die sogenannte „Freizügigkeitsbescheinigung“, doch in Deutschland haben sie keinen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, viele sind nicht mal krankenversichert. Und sie sind meist kaum aufgeklärt und informiert und sprechen in der Regel wenig oder kaum Deutsch. Dies erhöht das Risiko, sich mit HIV oder anderen sexuell übertragbaren Infektionen anzustecken. Die Arbeitsbedingungen und das gesellschaftliche Stigma erschweren die Situation der Frauen zusätzlich.“

Rotlichtviertel, hier: Frankfurt/Main (Foto: Arne Hückelheim, Wikimedia Commons)
Rotlichtviertel, hier: Frankfurt/Main (Foto: Arne Hückelheim, Wikimedia Commons)

Präventionsprojekte brauchen darum spezielles Infomaterial, um diesen Menschen den gleichberechtigten Zugang zu Information, Beratung und Behandlung zu ermöglichen. „Es muss dezent und verständlich sein“, sagt Tanja. „Am besten soll HIV-Prävention in ein breites Konzept der Gesundheitsförderung eingebettet sein. Mit den Märzchen und den dazugehörigen Kärtchen haben wir ein Medium, mit dem wir Menschen auf eine sehr vertraute und nette Art als Menschen begegnen können.“

Gute Erfahrungen mit den Martenizi hat Gerhard Peters gemacht, Sozialarbeiter im Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung in Berlin-Charlottenburg, wo man feste Beratungstage für Migrantinnen und Migranten eingerichtet hat: Montags und dienstags spricht man hier Bulgarisch, freitags Rumänisch. Seiner Erfahrung nach ist das Problembewusstsein bei vielen der Migrantinnen, die im Bordell arbeiten, nicht ausgeprägt; oft haben sie keine Ahnung, welche Krankheiten sie sich bei ungeschütztem Sex holen können. Außerdem fehle vielen ein grundlegendes Verständnis für die eigenen Körperfunktionen: Wie wird man schwanger, was findet da genau mit mir statt? Darum sind die Martenizi, mit denen man direkt ins Herz der Menschen gelangt, für Peters‘ Arbeit ein wahrer Segen. Die Märzchen wurden direkt im Gesundheitszentrum ausgegeben, aber viele wurden auch am ersten März-Wochenende in Bordellen oder ähnlichen Clubs handverteilt.

Das ist wie ein Stück Heimat

„Diese Talismane wirken wie ein Türöffner. Für die Frauen ist das ein Stück Heimat. Viele sind sehr überrascht, dass sie so etwas von deutschen Einrichtungen bekommen.“ Die Resonanz beschreibt der Sozialarbeiter als überwiegend positiv. „Es kam extrem selten vor, dass man uns nicht reingelassen hat. Nur einige wenige Betreiber sagten tatsächlich: Bei uns bitte nicht mehr!“

Subway-Logo
subway: eines der Berliner Projekte, die Martenizi verteilt haben (Quelle: www.hilfefuerjungs.de)

Neben Berliner Gesundheitszentren haben auch verschiedene Projekte an der Märzchen-Aktion teilgenommen, darunter Olga, ein Kontaktladen für drogenabhängige und sich prostituierende Frauen, die Hurenorganisation Hydra, das Roma-Hilfsprojekt Amaro Drom, das unter anderem Bildungsmaßnahmen anbietet und auch mit Strichern arbeitet, sowie das Berliner Stricherprojekt subway. „Die Märzchen sind toll angekommen“, berichtet Elisabeth, die für subway die Talismane in Bars, Sexkinos und auf dem Trans-Strich verteilt hat. „Viele wollten so einen Talisman für ihre Familie haben. Sogar die Freier waren sehr aufgeschlossen und wollten wissen, was das ist. Die Nachfrage war jedenfalls ziemlich groß: Es hat den Leuten sichtlich eine riesige Freude gemacht.“ In den Bars und Kinos, wo sie unterwegs waren, kam es nicht ein einziges Mal vor, dass Betreiber sich querstellten. „Wir sind eh regelmäßig vor Ort, die Jungs und Männer kennen uns“, sagt Elisabeth. „Die erkennen uns an unseren gelben Streetwork-Taschen und wissen, da sind Kondome drin.“

Aktion mit Langzeitwirkung

„Viele Migranten und Migrantinnen sprechen noch kaum Deutsch und es gibt welche, die Analphabeten sind“, erklärt Dorin. „Mit Infomaterial, das vor allem aus Text besteht, kommt man nicht weiter.“ Das weiß man natürlich auch bei subway. „Analphabeten und Jungs mit Leseschwäche machen einen nicht gerade kleinen Teil der Stricher aus“, sagt Elisabeth. Bei ihren Touren durch die Szene zeigen die subway-Teams den Strichern deshalb auch eigens hergestellte Videos, die sich bequem auf Smartphones speichern und via Bluetooth verbreiten lassen. In diesem Kurzfilmen geht es um HIV-Übertragung: Was ist riskant, was ungefährlich? Bilder und Piktogramme versteht schließlich jeder, unabhängig von seiner Herkunft. Begleitet werden die Bilder von einfachen Texten in rumänischer oder bulgarischer Sprache.

Die Märzchen-Aktion läuft noch bis Mitte des Monats. Insgesamt wurden und werden 1.500 Talismane inklusive erklärender Karten an lokale Kooperationspartner in Berlin verteilt, auf denen ein wenig über die Tradition erzählt wird, verbunden mit Wünschen für Gesundheit und ein langes Leben: je ein Drittel mit rumänischem Text, mit bulgarischem und mit deutschen Text.

Marteniza-Kärtchen der Deutschen AIDS-Hilfe
Marteniza-Kärtchen der Deutschen AIDS-Hilfe

Die Kooperationspartner haben die Möglichkeit, ihre Beratungsadressen auf die Kärtchen anzubringen und sie im Rahmen von Streetwork oder Beratung zu verteilen und somit auf ihre Angebote aufmerksam zu machen. Es gab viel positive Resonanz, sodass vielleicht im nächsten Jahr bundesweit Menschen mit Martenizas beglückt werden. Und die Aktion wird noch eine Weile nachwirken, wie der Charlottenburger Sozialarbeiter Peters sagt: „Schon bei einer ähnlichen Verteilaktion im letzten Jahr haben wir festgestellt, dass danach verstärkt Frauen zu uns kamen – meist werden sie von Freundinnen oder Kolleginnen mitgebracht. Die positive Langzeitwirkung der Aktion spüren wir noch Wochen später. Es braucht eben etwas Zeit und oft auch Überwindung.“

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