die letzten überlebenden – teil 6

„Du wirst okay sein, du wirst leben“

Von Gastbeitrag
Der Langzeitüberlebende David und sein Partner Ralph
David Spiher (links) und Ralph Thurlow lernten sich 2004 kennen. Vor ein paar Jahren wurde bei Ralph eine HIV-assoziierte neurokognitive Störung diagnostiziert. (Foto: Erin Brethauer / San Francisco Chronicle / Polaris)
David, seit 1985 HIV-positiv, traf seinen Partner Ralph im Jahr 2004, kurz nach dessen HIV-Diagnose. Ihr Leben war größtenteils glücklich und unkompliziert – bis bei Ralph erste Zeichen einer Demenz auftraten.

Mit der hochwirksamen Kombitherapie änderte sich Mitte der 1990er-Jahre der Verlauf der HIV/Aids-Epidemie regelrecht über Nacht: Tausenden Menschen, die sich zum Tode verurteilt sahen, wurde plötzlich eine Zukunft geschenkt. Doch Aids zu überwinden brachte neue Herausforderungen mit sich: Viele der Langzeitpositiven kämpfen noch immer ums Überleben – und um ihren Platz in einer Gesellschaft, die sie vergessen zu haben scheint.

Erin Allday, Reporterin beim San Francisco Chronicle, hat einige der Langzeitüberlebenden San Franciscos besucht, einer der Städte in den USA, die am stärksten von der Aids-Krise der 80er und 90er betroffen waren. Daraus entstanden ist das multimediale Projekt „Last Men Standing“ (auf Deutsch: Die letzten Überlebenden).

Ihren Artikel veröffentlichen wir hier in einer 8-teiligen Serie und danken der Autorin und dem San Francisco Chronicle herzlich für das Recht zur Zweitveröffentlichung.

Teil 6

Sie waren am Leben und gesund

Anfang 2013 verbrachten David Spiher und Ralph Thurlow nach dem Chaos im Urlaub eine ruhige Nacht in ihrem Haus in Hayward. Sie saßen am Küchentisch, ihre Katzen strichen um ihre Beine, und sie spielten Cribbage, eines ihrer liebsten Kartenspiele.

Ralph sah die Karten an, die er bekommen hatte. Um seine Hand zu beenden, musste er fünf und acht zusammenzählen. Aber er konnte nicht.

„Was ist fünf plus acht?”, stieß David hervor. Ralph starrte seine Karten an.

„Weißt du, was fünf plus acht ergibt?”, fragte David noch mal, behutsam.

„Gib mir einen Moment Zeit”, sagte Ralph.

„Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, als er nicht antwortete”, sagte David später, als er sich an diese Nacht erinnerte.

Für die beiden Männer, die die Geißel Aids bei relativ guter Gesundheit überlebt hatten, veränderte dieser Abend ihr bis dahin meist einfaches, glückliches Leben. Sie würden bald erfahren, dass die Krankheit Ralphs Gehirn befallen hatte.

David, der seit 1985 HIV-positiv ist, verbrachte einen Großteil seines Lebens in der Überzeugung, dass Aids ihn töten, er seinen Hund nicht überleben und er erst recht kein eigenes Zuhause haben oder mit jemandem alt werden würde. Doch die medizinische Wissenschaft rettete ihn. Er möchte nur allzu gern glauben, sie würde auch den Mann retten, den er liebt.

„Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, als er nicht antwortete”

Sie hatten sich vor 12 Jahren bei einem Treffen für genesende Alkoholiker_innen in Manhattan getroffen. Ralph, der gerade erst seine HIV-Diagnose erhalten hatte, war in Panik. Er hatte Angst und fühlte sich allein und erklärte vor der Gruppe Fremder, er sei positiv getestet worden.

Am Ende des Treffens stellte sich David vor. „Du wirst okay sein”, sagte er zu Ralph. „Du wirst leben.”

Etwa sechs Monate später fingen sie an, sich zu treffen, und 2006 zogen sie gemeinsam in die Bay Area, als Ralph, ein Tierarzt, einen Job bekam, bei dem er sich um Tiere in einem Forschungslabor kümmerte. Sie fanden neue Freund_innen und begannen ein neues Leben. Sie kauften ein kleines Haus und bevölkerten einen großen, verwilderten Garten mit dutzenden Tieren. David fand Arbeit an einer Privatschule in Oakland. Sie waren am Leben und gesund.

Sie sind ein komisches Paar, eine Tatsache, die beide akzeptieren und genießen. David (57) wirkt oft entspannt, ihm steht der zerknitterte Künstler-Look, aber er hat das Feuer des New Yorkers im Leib. Ralph (56) ist klein und kompakt, seine scharfen Augen hinter seiner Brille wirken ernst. Er ist ruhig, platzt dann aber heraus, erzählt seine Lebensgeschichte und rutscht dabei in schräge Details, ohne zu lächeln.

Noch fünf bis sieben Jahre

Das Cribbage-Spiel in jener Nacht offenbarte, dass mit Ralph etwas nicht in Ordnung war. Er hatte ein paar Monate davor seinen Job verloren, und David hatte gedacht, es handele sich bloß um eine betriebsbedingte Entlassung. Ralph gab später zu, er habe Schwierigkeiten bei der Arbeit gehabt und einen Taschenrechner gebraucht, um Gramm zu addieren, wenn er die Medikamente für seine Tiere abmaß. Er hatte sich gesagt, das komme nur vom Älterwerden, und falls es etwas Ernsteres sei, wollte er nicht zu sehr darüber nachdenken.

„Ich würde bei allen Studien mitmachen“

Im Februar 2013 gingen sie zum ersten Arzt, das war der Auftakt zu anderthalb Jahren Tests und Konsultationen bei Spezialist_innen. Schließlich wurde bei Ralph eine HIV-assoziierte neurokognitive Störung diagnostiziert. Sie kann auftreten, wenn HIV das Nervensystem angreift. Die meisten Menschen haben relativ milde kognitive Symptome, die das Gedächtnis, die Sprache und die Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigen können, aber sie sind noch in der Lage, ihren Alltag zu meistern. Ralph hat eine schwerere Form, die Demenz verursacht und schließlich zum Tod führt. Bevor er stirbt, wird er nicht mehr fähig sein zu gehen, zu sprechen, sich zu waschen oder zu essen. Die Ärzt_innen geben ihm noch fünf bis sieben Jahre.

David hat die Verantwortung für Ralphs medizinische Versorgung übernommen und sich Monate dafür eingesetzt, damit er Erwerbsunfähigkeitsrente bekommt. Um seinen Stress zu bewältigen, malt David: Porträts und Szenen aus ihrem Leben, spritzige, bunte Ölbilder, die schmerzlich wie auch wunderschön anzusehen sind.

Es gibt Tage, an denen niemand außer David bemerken kann, dass etwas mit Ralph nicht stimmt. An anderen Tagen ringt Ralph um Worte und klammert sich an Erinnerungen, die ihm entgleiten. Er kann Auto fahren und einkaufen, das Haus sauber machen und sich um ihre Tiere kümmern. Aber vor ein paar Monaten stellte David fest, dass Ralph für sich kein Mittagessen mehr kocht. Er hatte Angst, einen Brand zu entfachen.

„Ich kann mich nicht dazu entschließen, dass es aus und vorbei ist“

Ralph würde gern experimentelle Medikamente nehmen – alles, was ihm helfen und die Forschung rund um seine Demenz voranbringen könnte. „Gäbe es eine klinische Studie, würde ich daran teilnehmen”, sagte er. „Ich würde bei allem mitmachen.“

Aber es gibt keine Medikamente, die Ralph retten können – noch nicht. Nachdem die internationale Aids-Community so sehr für die Entwicklung antiretroviraler und anderer Medikamente eingesetzt hat, kommt es David so vor, als hätte man Langzeitüberlebende wie ihn und Ralph ins Abseits geschoben.

Trotzdem hat David Wunder erlebt. Dass er heute lebt, ist eines davon. Und so sagt er sich, dass in der Zeit, die Ralph nach Meinung der Ärzt_innen noch hat, noch viel geschehen kann.

„In gewisser Weise verliere ich nicht den Mut“, sagte David. „Ich kann mich nicht dazu entschließen, dass es für mich aus und vorbei ist.“

 

Die letzten Überlebenden – Teil 1: „Ich bin der glücklichste unglückliche Mensch der Welt“

Die letzten Überlebenden – Teil 2: „Ich habe mich die ganze Zeit aufs Sterben vorbereitet“

Die letzten Überlebenden – Teil 3: „Wir waren aufrechte Säulen inmitten der Trümmer“

Die letzten Überlebenden – Teil 4: „Ich habe so vieles in meinem Leben gehabt, aber eines vermisse ich“

Die letzten Überlebenden – Teil 5: „Du musst dich dafür entscheiden, glücklich und dankbar zu sein“

Die letzten Überlebenden – Teil 7: „Ihr tragt all die Erinnerungen, die ganze Geschichte mit euch“

Die letzten Überlebenden – Teil 8: „Ich will, dass die mir noch bleibende Zeit zählt“

1 Kommentare

Conni 21. Januar 2018 23:36

Bitte denkt daran ein palliatives Netzwerk macht es möglich zu Hause zu sein und zu bleiben um dort sterben zu können ,wenn der Tag X kommt.lg geniesst das Leben jeden Tag

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