„Ich will, dass die mir noch bleibende Zeit zählt“
Mit der hochwirksamen Kombitherapie änderte sich Mitte der 1990er-Jahre der Verlauf der HIV/Aids-Epidemie regelrecht über Nacht: Tausenden Menschen, die sich zum Tode verurteilt sahen, wurde plötzlich eine Zukunft geschenkt. Doch Aids zu überwinden brachte neue Herausforderungen mit sich: Viele der Langzeitpositiven kämpfen noch immer ums Überleben – und um ihren Platz in einer Gesellschaft, die sie vergessen zu haben scheint.
Erin Allday, Reporterin beim San Francisco Chronicle, hat einige der Langzeitüberlebenden San Franciscos besucht, einer der Städte in den USA, die am stärksten von der Aids-Krise der 80er und 90er betroffen waren. Daraus entstanden ist das multimediale Projekt „Last Men Standing“ (auf Deutsch: Die letzten Überlebenden).
Ihren Artikel veröffentlichen wir hier in einer 8-teiligen Serie und danken der Autorin und dem San Francisco Chronicle herzlich für das Recht zur Zweitveröffentlichung.
Teil 8
Es hat gefunkt
Kevin VandenBergh betrat die Episcopal-Kirche St. Johannes der Evangelist, bevor die Musik einsetzte. Es war eine warme Donnerstagnacht, und er war einer der ersten, die zu einem zwanglosen Abendessen mit Tanz für Langzeitüberlebende eintrafen.
Er hatte sich aus einer Laune heraus entschieden, hinzugehen. Obwohl er sich in den letzten Wochen etwas mehr herausgewagt hatte, hatte ihn seine Depression nach wie vor im Griff. Er dachte immer noch an Suizid und hatte seinen Plan nicht aufgegeben. Doch er hatte beschlossen, zu versuchen, sich wieder mit etwas zu beschäftigen.
„I will survive“
Wie immer war er nervös, seine Hände zitterten, und er redete etwas zu schnell. Beinahe wäre er wieder hinausgegangen. Aber dann nahm ihn ein Mann, den er ein- oder zweimal getroffen hatte, beim Arm und lenkte ihn an einen Tisch. Innerhalb weniger Minuten hatte er Kevin überredet, ein paar Tage später mit einer Gruppe Langzeitüberlebender bei der Pride Parade mitzumarschieren.
Schon bald tanzte Kevin. Er war überreizt, aber froh, dass er aus seinem stillen, einsamen Leben herausgetreten war. Er tanzte ein paar Stunden und ging dann. Aber er war gerade einen halben Block weit gekommen, als ein Song, der ihm vertraut war, ihn wieder zurück in die Kirche lockte.
Es war „I will survive“, ein Song, zu dem er in Clubs in seiner Geburtsstadt Chicago in den späten 1970ern so gern getanzt hatte. Später würde er verlegen belächeln, wie passend der Song war. Aber jetzt ließen dieser Song und die damit verknüpften glücklichen Erinnerungen den Wunsch in ihm aufkommen, noch etwas länger zu feiern. Und als es schließlich hell wurde in der Kirche, war Kevin immer noch dort – schweißdurchtränkt, strahlend, als einer der wenigen Männer, die immer noch auf der Tanzfläche waren.
Drei Tage später marschierte er in der Pride Parade und hielt ein Spruchband, das „Liebe heilt” verkündete. Das andere Ende des Spruchbands trug John, den Kevin beim Tanzen getroffen hatte. Es hatte gefunkt zwischen ihnen. Kevin brachte John zum Lachen. Sie marschierten zusammen die Market Street hinunter, Kevin schrie sich heiser, winkte der Menge zu und reckte seine Faust in die Luft.
„Ich kann nicht sagen, wann ich das letzte Mal jemandes Hand gehalten habe”
Die Parade spülte sie zum Civic Center Plaza, wo sie von der Menge verschluckt wurden. Kevin griff nach John, um einander nicht zu verlieren.
„Und ganz plötzlich merkte ich, dass wir uns an den Händen hielten“, sagte Kevin. Inzwischen sind Wochen vergangen, doch seine Augen leuchten bei der Erinnerung. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wann ich das letzte Mal jemandes Hand gehalten habe.”
Altwerden mit HIV
An manchen Tagen kann Ganymede kaum glauben, dass es ihm noch einmal vergönnt war, sich zu verlieben und eine neue Familie aufzubauen. Mit dem lebhaften Cullen, mit dem er streiten und lachen kann. Und mit Warren, der an einem viel zu heißen Sommertag Schokoladenplätzchen backt.
Mit seiner leisen, aber festen Stimme, seinem langen, grauen Haar, das er in einem lockeren Pferdeschwanz trägt, und mit einem Nasenring strahlt Ganymede eine ruhige, aber beharrliche Energie und unleugbare Autorität aus. Er ist der Mittelpunkt seiner Familie in den Hügeln. Einige seiner Freund_innen nennen ihn „St. Ganymede“, sagt Cullen und rollt dabei die Augen. Ganymede zieht Cullen auf, indem er ihn „die Frau des Ministers“ nennt.
Doch es ist klar, dass Ganymede zerbrechlicher ist als seine Partner. Die Neuropathie lässt seine Füße ständig schmerzhaft kribbeln. Narben einer Hautinfektion, die von Medikamenten einer Immuntherapie herrühren, bedecken seine Schienbeine.
Sein Körper ist oft steif und schmerzt, und er wird leicht müde. In letzter Zeit ist er etwas kräftiger geworden – er bewegt sich häufiger und kann jetzt die steilen Treppen zu seinem Haus ohne Stock bewältigen. Kochen und Saubermachen obliegen aber hauptsächlich Cullen und Warren. Lange Zeit fühlte sich Ganymede in seinem eigenen Haus nutzlos.
„Ich durchlaufe mit dieser Krankheit den schrecklichen Alterungsprozess“
Auch seine Libido hat nachgelassen. Er vermisst so manches, was einst für seine Spiritualität so wichtig war. Obwohl er immer noch Sex hat, hat er Trost in einer sanfteren körperlichen Intimität gefunden.
Er ist gerade erst 60 geworden. „Aber ich fühle mich eher wie 70”, sagte er.
Ganymede versucht, mit sich selbst und seiner Gebrechlichkeit Geduld zu haben. Jeden Morgen, wenn er mit den Schmerzen in seinen Beinen aufwacht, sagt er sich, er müsse dankbar sein. Und glücklich.
„Ich durchlaufe mit dieser Krankheit den schrecklichen Alterungsprozess, was hundert meiner Freunde im wahrsten Sinn des Wortes nicht geschafft haben”, sagte er. „Nicht einmal das war ihnen vergönnt.”
Sehnsucht nach dem „Königreich“ San Francisco
Peter Greene streckte sich auf einem roten Granitfelsen am Rand des Tahquitz-Canyons aus. Sein Kopf lag auf seinem Rucksack, seine Füße in den Stiefeln baumelten über die Kante, seine Augen blinzelten in einen perfekt blauen Himmel. Unter ihm lag die Wüste, die Oase Palm Springs schmiegte sich hübsch in das Tal.
„Heute”, sagte Peter, während er seine Augen schlosst, als könne er an Ort und Stelle ein Nickerchen machen, „ist ein schöner Tag. Ich bin hier draußen, der Himmel ist blau und ich fühle mich gut. Ich kann nicht an den nächsten Tag denken. Oder an den übernächsten.”
„Ich erfülle hier keinen Zweck“
Er ist vor zwei Jahren in die Wüste gezogen, nachdem er sein Apartment im Castro-Viertel verloren hatte. Ein paar enge Freunde halfen ihm beim Kauf eines Wohnmobils. Es ist klein, aber nett und steht am Fuß eines Berges, einen Fußmarsch vom Canyon entfernt, in dem er gerne wandert.
Doch er ist hier nicht glücklich geworden. Obwohl es in Palm Springs eine Community älterer schwuler Männer gibt (viele von ihnen sind ebenfalls Langzeitüberlebende), hat sich Peter immer wie ein Außenseiter gefühlt. Die ruhige Monotonie des Lebens in der Wüste war nicht sein Ding, sagte er. San Francisco, wo er über drei Jahrzehnte gewohnt hatte, war immer noch sein Zuhause.
„Ich wurde aus dem Königreich, das mir vertraut war, verbannt”, sagte er. „Ich erfülle hier keinen Zweck. Und ich will, dass die mir noch bleibende Zeit zählt.”
Sogar an herrlichen Tagen wie diesem ertappte er sich dabei, dass er ständig an die Stadt dachte und sich fantastische, vielleicht unmögliche Pläne für eine Rückkehr zusammenträumte. Er müsste sich ein erschwingliches Apartment und vielleicht eine_n Mitbewohner_in suchen. Das Reisebüro mit dem Namen „Now, Voyager“, das kaum etwas abwarf, müsste wieder Geld einbringen.
Er verbrachte den gesamten letzten Sommer in San Francisco und war bei einer Frau untergekommen, die einst seine Krankenschwester war, ihm aber vor langer Zeit eine Freundin geworden ist. Er war an Weihnachten dort und für ein paar Tage nach Neujahr, um sich um „Now, Voyager“ zu kümmern.
Wenn das Ende kommt
Das letzte Mal war er Anfang Februar in der Stadt. Er ging zu den Ärzt_innen, die seine komplexe Krankengeschichte kannten und ihn fast sein gesamtes Erwachsenenleben behandelt hatten. Er sang bei „Martuni’s“, der Karaoke-Bar an der Market Street, wo der Pianist alle seine Lieblingssongs kannte. Er traf sich zum Abendessen mit einem Freund, der sich noch an Peter als einen frechen, verwegenen Jungunternehmer erinnerte.
„Ich will einfach nur zurück nach San Francisco“
Zurück in Palm Springs, begann er, sich krank zu fühlen. Er suchte die Notaufnahme im Desert Regional Medical Center auf, klagte über Übelkeit, Herzrasen, Verwirrtheit und Schmerzen. Untersuchungen ergaben, dass er innere Blutungen hatte und schließlich, dass seine Leber wegen Hepatitis-B-bedingter Komplikationen versagte. Er wurde auf die Intensivstation verlegt.
Per SMS schrieb Peter aus dem Krankenhaus, dass er Angst hatte und frustriert war. „Ich will einfach nur zurück nach San Francisco.” Und später: „Egal, was jetzt passiert – ich weiß, dass mir das Beste zuteil geworden ist, und das hat mich am Leben gehalten. Irgendwann muss ich mich einfach von den Schicksalsgöttinnen irgendwohin bringen lassen.”
Früh am Morgen des 10. Februars verstarb Peter.
Er hatte einst leise und widerwillig zugegeben, dass er Angst davor hatte, allein zu sterben. Dass er befürchtete, 500 Meilen von zu Hause und den Freund_innen, die er Familie nannte, entfernt zu sein, wenn das Ende kommt.
Manchmal hatte er sich zugestanden, über den Weg, auf den ihn Aids – das Überleben – gezwungen hatte, verbittert zu sein. Aber es endete immer damit, dass er sich in seinem Selbstmitleid auslachte. Er war schließlich immer noch da. Er würde das unerwartete Leben, das ihm vergönnt war, nicht aufgeben. Selbst dann nicht, wenn er es in Palm Springs verbringen müsste und er es nie zurück nach Hause schaffen würde.
Die Größe des Lebens
Als David Spiher Ende 2013 Ralph Thurlow einen Heiratsantrag machte, antwortete Ralph schnell und ehrlich mit Nein. Er kannte zu viele Leute in schrecklichen Ehen. Aber nur ein paar Monate später, am Valentinstag, war Ralph es, der David einen Heiratsantrag machte.
Er hatte vergessen, ein Geschenk zu kaufen, sagte David mit einem Grinsen. Ralph sagte, er kann sich nicht daran erinnern.
Sie heirateten am 25. Juli an einem sonnigen Nachmittag im Zen-Zentrum, das sie in Berkeley besuchen, vor 50 Freund_innen und Familienmitgliedern. Beide Bräutigame trugen weiße Hemden und Hosen und hatten Gebetsketten um den Hals.
In der Ecke des Raumes stand eine dreistöckige Torte, geformt wie die Berge rund um das Yosemite Valley, einem Ort, den beide lieben. Über eine Seite ergoss sich ein blauer Wasserfall aus Zuckerguss und oben thronte eine 3D-Druck-Skulptur, die ein befreundeter Künstler gemacht hatte: David und Ralph, nebeneinander in einem Ruderboot sitzend, jeder mit einer Hand das Knie des anderen umfassend. Das Boot hing über den Rand des Wasserfalls, gegen die Strömung. Ihre Rücken waren einer turbulenten, unbekannten Zukunft zugewandt.
„Das sind zwei Männer, die ein Leben hinter sich haben”
David führte Ralph behutsam durch Teile der Zeremonie und flüsterte ihm zu, wann er sich zu verbeugen, zu drehen oder seine Hände zu reichen hatte. Vielleicht war es nur der Stress des Hochzeitstags.
„Diese hier sind keine jungen Männer“, sagte der Zen-Meister zum Beginn der Feier. Die Menge gluckste, auch die Bräutigame lächelten. „Das sind zwei Männer, die ein Leben hinter sich haben”, fuhr er fort, „die um die Betrübnis und die Leiden wissen, die mit dem tiefen Brunnen der Liebe und Leidenschaft verbunden sind.“
„Das Wichtigste in einer Ehe ist wahrscheinlich, groß genug zu sein, um alles festzuhalten. Was wir festhalten können, macht uns keine Angst. Bitte haltet in eurer Ehe all eure Erfahrungen fest. Alle.”
„Erkennt die Größe des Lebens an und denkt über sie nach“, riet ihnen der Zen-Meister. „Und dann lebt es, Tag für Tag, Atemzug für Atemzug.“
„Ja, wir schaffen das“
„Wollt ihr das tun?”, fragte er die Bräutigame.
„Ja, wir schaffen das”, sagte David, seine Augen auf Ralph gerichtet. Ralph hielt inne. „Wir schaffen das“, wiederholte er.
„Ihr schafft das?”, so der Zen-Meister.
David lachte. „Ja.”
„Ja”, sagte Ralph nur einen Atemzug später.
In einem Leben, das von einer Plage, von Verlust und Schmerz, Angst und Einsamkeit bestimmt ist, zählen manchmal die kleinsten Schritte nach vorn und die kürzesten Momente der Dankbarkeit am meisten. Bei Sonnenschein aufzuwachen. Jemandes Hand zu halten.
Ja zu sagen.
Außerdem erschienen:
Die letzten Überlebenden – Teil 1: „Ich bin der glücklichste unglückliche Mensch der Welt“
Die letzten Überlebenden – Teil 2: „Ich habe mich die ganze Zeit aufs Sterben vorbereitet“
Die letzten Überlebenden – Teil 3: „Wir waren aufrechte Säulen inmitten der Trümmer“
Die letzten Überlebenden – Teil 4: „Ich habe so vieles in meinem Leben gehabt, aber eines vermisse ich“
Die letzten Überlebenden – Teil 5: „Du musst dich dafür entscheiden, glücklich und dankbar zu sein“
Die letzten Überlebenden – Teil 6: „Du wirst okay sein, du wirst leben“
Die letzten Überlebenden – Teil 7: „Ihr tragt all die Erinnerungen, die ganze Geschichte mit euch“
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