Seit der Internationalen Aids-Konferenz in Genf 1998 ist die HIV-Community in die Planung und Durchführung medizinischer Kongresse eingebunden. Ein Kalenderblatt zum 15-jährigen Bestehen des „Genfer Prinzips“ von Axel Schock.

Genf setzte Standards (Foto: Erich Westendarp, pixelio.de)
Genf 1998 war Ausgangspunkt der Community-Beteiligung (Foto: Erich Westendarp, pixelio.de)

Wissenschaftliche Kongresse sind etwas für ausgewiesene Fachleute und nichts für Laien. So apodiktisch wurde es in den 1980er Jahren auch bei Aidskongressen gehalten. Hier trafen sich Mediziner, Epidemiologen und Sozialwissenschaftler. Diejenigen aber, um die es ging – die HIV-Positiven und an Aids Erkrankten – mussten draußen bleiben.

Unmut in der HIV-Community

Man redete zwar über sie, aber nicht mit ihnen. Der Unmut in der HIV-Community wuchs, denn viele Aids- und Therapieaktivisten waren schon lange keine Laien mehr. Die Planung und Durchführung von Medikamentenstudien waren für sie nicht nur Arbeitsalltag von Pharmazeuten, sondern eine Frage des nackten Überlebens und der eigenen Lebensqualität.

„‚Nicht über uns reden, sondern mit uns’ war seit Beginn der Aidskrise eine der wesentlichsten Forderungen von Menschen mit HIV“, sagt der Aidsaktivist Ulrich Würdemann. Er war 1990 mit dabei, als sich HIV-Positive, Aidskranke und Mitarbeiter von Aidshilfen mit ACT-UP-Aktionen erstmals Zutritt zu einem Aidskongress in Deutschland verschafften.

„Nicht über uns reden, sondern mit uns“

„In den folgenden Jahren konnten wir mit Aktionen nach und nach dafür sorgen, dass Menschen mit HIV nicht nur Zutritt, sondern auch Stimme auf Aidskongressen bekamen“, so Würdemann. Die entscheidende Wende kam mit der 12. Welt-AIDS-Konferenz 1998 in Genf, die unter dem bezeichnenden Titel „Bridging the gap“ stand. Erstmals waren Menschen mit HIV und Aids an der Planung, Gestaltung und Durchführung gleichberechtigt beteiligt. Als „Genfer Prinzip“ ging dieses Konzept in die Geschichte ein. „Ein Jahr später, beim Deutschen Aids-Kongress in Essen, konnten wir das auch hierzulande voll umsetzen“, erinnert sich Ulrich Würdemann, der vor kurzem in den Nationalen AIDS-Beirat berufen wurde.

Begegnung auf Augenhöhe

„Die Beteiligung der Community an der Planung einer internationalen Aids-Konferenz ist genauso wichtig wie die der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten sich die Vertreter beider Gruppen auf gleicher Augenhöhe begegnen“, heißt es in einer Erklärung der International Aids Society (IAS), welche die internationalen Aidskonferenzen ausrichtet.

Community-Beteiligung ist als Standard etabliert (Foto: Stephanie Hofschläger, pixelio,de)
Community-Beteiligung ist als Standard etabliert (Foto: Stephanie Hofschläger, pixelio,de)

Diese Übereinkunft war nunmehr international etablierter Standard. Wer damit brechen wollte, musste mit deutlichen Reaktionen rechnen. So geschehen beim Deutsch-Österreichisch-Schweizer Aids-Kongress (SÖDAK) 2009. Das Community-Board mit Vertretern aus den drei Ländern sah seine eingebrachten Gestaltungsvorschläge nicht ausreichend berücksichtigt und boykottierte daher die Konferenz. Dem Protest schloss sich auch die Deutsche AIDS-Hilfe an; die Schweizer und österreichischen Aidshilfen nahm nur eingeschränkt und unter Vorbehalten am SÖDAK teil.

Chancen und Synergien für den Umgang mit HIV/Aids

Der Public-Health-Wissenschaftler Rolf Rosenbrock nahm den Konflikt zum Anlass, um die Bedeutung der partnerschaftlichen Kooperation aller Interessenvertreter bei der Vorbereitung und Durchführung nationaler und internationaler Aidskonferenzen herauszuheben. Diese Form der Zusammenarbeit berge große Chancen und Synergien für den Umgang mit HIV/Aids“, betonte Rosenbrock bei einem Vortrag auf dem SÖDAK 2009. Das Genfer Prinzip ist für ihn keineswegs ein Auslaufmodell, sondern könne und sollte im Gegenteil sogar ein Vorbild auch für den Umgang mit anderen Krankheiten sein.

Zu einer Rückkehr zum alten Trott, bei der die Mediziner, hofiert von der Pharmaindustrie, getrennt von Selbsthilfeverbänden und den Präventionseinrichtungen tagen, ist es nach dem SÖDAK 2009 glücklicherweise nicht gekommen. Die Beteiligung von HIV-Positiven an Aidskongressen, einst Skandal, ist heute Normalität.

 

Weiterführende Beiträge von Ulrich Würdemann:

Positiven-Beteiligung an Aids-Kongressen
3. Deutscher Aids-Kongress Hamburg 1990: ‚Nicht über uns, mit uns’ – HIV-Positive und Aids-Kranke verschaffen sich Zutritt 

UNAIDS-Memorandum From Principle to Practice: Greater Involvment of People of Living with or Affected by HIV/AIDS (GIPA)  von 1999

 

 

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

1 Kommentar

  1. Lieber Axel, lieber Ulli,

    danke für den interessanten Beitrag.
    Ich möchte ergänzen, dass bereits bei der Welt-AIDS-Konferenz 1992 ein Vertreter der Organisation damit beauftragt war, im Vorfeld alle (also auch zB virologische) Themen der Konferenz mit Community-Vertretern zu besprechen.
    Aufgrund des Einreiseverbotes war die in Boston geplante Konferenz nach Amsterdam verlegt worden, damit auch Positive teilnehmen können. Damals waren einige ACT UP! Aktivisten in den USA schon sehr weit mit der inhaltlichen „Einmischung“, was dann gemeinsam mit uns von ACT UP! Amsterdam fortgesetzt wurde. Zur 1993-Konferenz in Berlin unterstützten dann wir Amsterdamer die Berliner ACT UP! Leute, was zum Beispiel zu regelmäßigen Treffen mit dem Chef der Konferenz führte (Karl-Otto Habermehl).
    Den Auftritt von Aldyn McKean (ACT UP! NEW York) als ersten offen Positiven und Aktivisten bei der Eröffnungsfeier der Welt-AIDS-Konferenz 1993 in Berlin mussten wir noch durch die Androhung von Aktionen im im Saal erzwingen – es war bis zum Schluss offen, ob sie ihn „freiwillig“ auf´s Podium lassen.

    Viele Grüße,
    Corinna

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