Bernd Aretz, langjähriger Mitstreiter und Wegbegleiter der Deutschen AIDS-Hilfe, Enfant terrible und Hundeliebhaber, ist am 23.10.2018 im Alter von 70 Jahren gestorben. Am 15. Dezember wurde er auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin als erstes Mitglied seiner Post-mortem-WG beigesetzt. Wir dokumentieren hier die Trauermoderation seines Freundes und Weggefährten Hans Hengelein.

Liebe Trauergäste, lieber Kalle, liebe Verwandte, liebe Wahlfamilie, liebe Wegbegleiter_innen, liebe Grabgemeinschaft,

ich begrüße Sie/euch alle hier in der Kapelle des Alten Sankt-Matthäus-Friedhofes, um von Bernd Aretz endgültig Abschied zu nehmen.

Mein Name ist Hans Hengelein und ich begleite Sie/euch durch die nächste Stunde.

Bernd ist am Montag, dem 23. Oktober, gestorben. Wie von ihm schon zu Lebzeiten gewollt und verfügt, fand die erste Trauerfeier am 2. November in der Alten Nikolaikirche in Frankfurt statt.

„Wie du ja sicher schon gehört hast, werde ich dieses Jahr nicht überleben“

Heute sind wir hier zu seiner Urnenbeisetzung zusammengekommen. Genauer zu seiner Kapselbeisetzung. Eine Urne wollte er nicht, und auch daran haben wir uns strikt gehalten. Und als ob Bernd es schon längst gewusst hätte: Kurz vor seinem 70. Geburtstag im Juli erschien das passende Buch im Suhrkamp-Verlag dazu: Martin Reicherts „Die Kapsel – AIDS in der Bundesrepublik“.

Als mich Bernd einige Wochen vor seinem 70. Geburtstag anrief, meinte er: „Wie du ja sicher schon gehört hast, werde ich dieses Jahr nicht überleben. Ich bin ja diesem Klimawechsel so dankbar, der mir noch einige Monate zusätzlich geschenkt hat. Könntest du dir vorstellen, durch meine Berliner Trauerfeier quasi als Zeremonienmeister zu führen?“

Wie hätte ich Bernd diesen Wunsch verwehren können, verbunden mit seinem Hinweis, dass es doch schick wäre, wenn ich ihn eingebettet in die Kapsel auf meinem Schoß auf dem Rollstuhl hier in diese Halle bringen würde.

Liebe Gäste, Bernd Aretz ist so gestorben, wie er es sich gewünscht und auch vorausgesagt hat. Sobald der nicht enden wollende Sommer plötzlich haltmachte und unvermittelt Regen und Herbststürme einsetzten, da wollte unser lieber Bernd dann auch nicht mehr.

Und Bernd wäre nicht Bernd, hätte er den heutigen Tag nicht mit jedem Einzelnen genau durchgesprochen, wie er sich dessen bzw. deren Aufgabe vorstellen würde.

Annette Fink als seine Vertraute in der Bundesgeschäftsstelle der Deutschen AIDS-Hilfe, Björn Beck für den Vorstand der DAH, Martin Dannecker als dem intellektuellen Weisen, dem er drei Texte zur Interpretation anvertraut hat, und natürlich du, lieber Kalle, der wichtigste Mensch in Bernds Leben, der einzige, der Bernds Musikgeschmack wirklich kannte, und auch der Grund, warum uns Talib Richard Vogl mit seiner Gitarre musikalisch begleiten wird.

Treffen eines durchgeweichten Krüppels und eines mehr als schnaufenden Bernds

Am 23. September haben Bernd und ich uns, und wie hätte der Name des Restaurants anders lauten können als „Legacy“, in Frankfurt quasi zu seinem Vermächtnis getroffen.

Es war der erste Regentag, es goss wie aus Kübeln und wir kamen patschnass im schicken Legacy an. Ein durchgeweichter Krüppel und ein mehr als schnaufender Bernd, der Minuten brauchte, um wieder regelmäßig atmen zu können. Was alle Beteiligten nur ungefähr wussten. Jedes seiner Gespräche war individuell auf unsere Stärken und Fähigkeiten ausgerichtet. Aber wie wir schon aus der Gestalttheorie wissen, das Gesamte ist mehr als die Summe der Einzelteile.

So, lieber Bernd, hoffen wir sehr, dass sich dies alles so zu einem Ganzen fügt, wie du es dir vorgestellt hast.

***Musik***

Bernd Aretz veränderte die Bedingungen, unter denen er lebte

Bernd habe ich bei einem Positiventreffen in den späten Achtzigerjahren in einem kleinen Kaff in der Nähe Lüneburgs kennengelernt. Niemand hat mir später beruflich solche Komplimente gemacht wie er, als er über mich sagte: „Als schwuler Mann und aufgrund einer Kinderlähmung Rollstuhlfahrer, kann er sich verschwiemelte Sentimentalitäten kaum leisten. Statt zu nörgeln, verändert er lieber die Bedingungen, unter denen er lebt.“

In diesem Punkt waren wir uns vom ersten Augenblick an in unserer Zusammenarbeit einig.

Unsere erste gemeinsame Aktion mit Dutzenden anderen zusammen war im Juli 1988 der Aktionstag „Solidarität der Uneinsichtigen – für eine menschliche AIDS-Politik“ in Frankfurt am Main. Damit sollte auf gesellschaftliche Umstände hingewiesen werden, die das Leben von Menschen mit HIV, von Menschen mit Aids beeinträchtigen und die es Menschen, die in dem realen Risiko leben, sich mit HIV zu infizieren, erschweren, selbstbestimmt zu handeln.

Bernd sagte damals vor der Konstablerwache:

„Jeder von uns gehört einer Minderheit an. Wenn wir zulassen, dass andere Minderheiten ausgegrenzt werden, wird auch niemand für uns aufstehen. Wehren wir uns gemeinsam dagegen, dass diese Gesellschaft aus den historischen Erfahrungen nicht lernt.“

Damit begann dann für wenige Jahre die Zeit unserer intensivsten Zusammenarbeit für mich als HIV-Referent und für Bernd als Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe.

Meine Lieben, um das Wirken Bernds in seiner ganzen Breite zu würdigen, hat nun das Wort der Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe Björn Beck.

***Rede Björn Beck***

***Musik***

Während viele Teilnehmer auf den 6. Münchner AIDS-Tagen im Juli 1997 in leichtem Optimismus schwelgten ob der teilweise erdrutschartigen Fortschritte in der Behandelbarkeit einer HIV-Erkrankung, teilten Bernd und ich nicht nur eine Suite in einem Münchner Luxushotel, sondern auch unser Leid über unsere vor kurzem verstorbenen Partner.

„Ich bewundere Bernds Ausgeglichenheit und ausgleichendes Wesen“

Ohne Bernds weise Ratschläge und Käpt’n Blaubärs Hilfe hätte ich vieles nicht so leicht überstanden. Selbst noch in tiefer Trauer stand er mir unaufgeregt und auch als Anwalt bei.

Was ich an Bernd schätzte, waren diese authentischen Begegnungen, bis an die Schmerzgrenze aufrecht.

Ich bewundere bis heute seine Ausgeglichenheit und sein ausgleichendes Wesen trotz oder gerade wegen all der Widrigkeiten.

Schritte durch die Scham hindurch

Hans Peter Hauschild, Bernds kongenialer Vorstandskollege, hat gemeinsam mit Bernd immer wieder eine mögliche Antwort auf folgende Frage gesucht: „Was könnte es bedeuten, mit der Behinderung abnehmender Attraktivität in die ‚Selbstbestimmt-leben‘-Debatte zu treten?“

„Die Behinderungen durch das Vollbild Aids unterscheiden sich nicht von anderen Bedürfnislagen, bei denen Assistenz erforderlich wird. Schluss mit der Angst vor dem Etikett ‚behindert‘, so verständlich es ist, dass eine ‚Doppeletikettierung‘ zunächst schreckt! Besonders für Betroffene, die bereits über leidvolle Erfahrungen mit identitätsbezogener Diskriminierung verfügen, ist es verständlicherweise schwierig, hier einen Schritt weiter ‚durch die Scham hindurch‘ zu wagen.“

Bernd hat sich immer wieder in diesen schmerzhaften Bereich vorgewagt, vor dem viele zurückschrecken, da sie Angst davor haben, dass sie diese Auseinandersetzung sehr einsam und verbittert zurücklassen könnte.

„Schluss mit der Angst vor dem Etikett ‚behindert‘!“

Bernd fand dafür einen beeindruckenden Mittelweg. Oder um es abstrakt zu formulieren:

Schon lange vor dem theoretischen Überbau der strukturellen Prävention oder der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in nationales und Landesrecht beschäftigte sich die Deutsche AIDS-Hilfe mit dem Recht Kranker auf Sexualität. Wir verdanken es hauptsächlich den Aidshilfen, dass Themen wie chronische Erkrankung, Behinderung und Sterben auf der einen Seite, Sexualität – und hier insbesondere Homosexualität – auf der anderen Seite miteinander verwoben ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurden. Und dazu hat Bernd einen wichtigen Beitrag geliefert.

Auf diese und weitere schwierige Fragen wird Martin Dannecker (nach einem kleinen Intermezzo von Talib) anhand dreier Texte, die Bernd als Grundlage für Martins Rede vorgeschlagen hat, sicher pointierte Antworten anbieten.

***Intermezzo***

***Rede Martin Dannecker***

Lieber Martin, herzlichen Dank für diesen wunderbaren Text über, von und zu Bernd. Und auch bei diesem hat unser lieber Bernd inhaltlich leicht, aber bestimmend die Hand mit geführt.

Lassen Sie mich zum Schluss mit einem leichten Augenzwingern[1] aus einem Text, den Karl Lemmen schon vor 23 Jahren verfasst hat, zitieren.

Beim Leichenschmaus trocknen die Tränen. Ein Plädoyer für traditionelles Trauern.

„Demnach sollte, wer sich in Berlin um das Seelenwohl seiner Hinterbliebenen schert, vielleicht auf die Einsegnungsfeier vor der Verbrennung verzichten und zur Urnenbeisetzung laden oder gleich eine Erdbestattung wählen. Der heißeste Tipp hierfür ist der Friedhof St. Matthäus in Schöneberg. Inzwischen hat sich dort ein stattliches Trüppchen von Freunden und Bekannten versammelt, das an tristen Novembertagen mit entsprechender Trauerstimmung zum Spaziergang einlädt. Mancher hat dort schon in Immobilien investiert, weil man munkelt, dass es in Zukunft eng werden könnte. Da soll noch mal jemand behaupten, wir schöpften aus traditionellen Formen keine Trauerkultur!!!“

Liebe Freunde, liebe Freundinnen, lieber Kalle, lasst uns nun gemeinsam zum Lietzmann-Grab aufbrechen, zu unserem gemeinsamen Grab, bei dem – in den Worten der grandiosen Bochowa – mit Bernd nun der Erstbezug in unsere schwule Post-mortem-WG kurz bevorsteht.

[1] Anm. d. Redaktion: Hans Hengelein ist Frrrrange (Franke)

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