„Ich habe mich die ganze Zeit aufs Sterben vorbereitet“
Mit der hochwirksamen Kombitherapie änderte sich Mitte der 1990er-Jahre der Verlauf der HIV/Aids-Epidemie regelrecht über Nacht: Tausenden Menschen, die sich zum Tode verurteilt sahen, wurde plötzlich eine Zukunft geschenkt. Doch Aids zu überwinden brachte neue Herausforderungen mit sich: Viele der Langzeitpositiven kämpfen noch immer ums Überleben – und um ihren Platz in einer Gesellschaft, die sie vergessen zu haben scheint.
Erin Allday, Reporterin beim San Francisco Chronicle, hat einige der Langzeitüberlebenden San Franciscos besucht, einer der Städte in den USA, die am stärksten von der Aids-Krise der 80er und 90er betroffen waren. Daraus entstanden ist das multimediale Projekt „Last Men Standing“ (auf Deutsch: Die letzten Überlebenden).
Ihren Artikel veröffentlichen wir hier in einer 8-teiligen Serie und danken der Autorin und dem San Francisco Chronicle herzlich für das Recht zur Zweitveröffentlichung.
Teil 2
Furchteinflößende Jahre statt glänzender Zukunft
Versteckt unter dem Bett in seinem Apartment in der Market Street befindet sich die Ursache von Kevin VandenBerghs größtem Stolz und tiefster Reue.
Ordentlich in einem durchsichtigen Plastikbehältnis verstaut, befindet sich eine Sammlung von Kevins wissenschaftlichen Arbeiten. Er nimmt sie nur selten heraus. Als er aber eines Nachmittags die Ordner auf seiner Bettdecke ausbreitete und durch die verblassten, mit Schreibmaschine getippten Seiten blätterte, zog er eine Arbeit vom Sommer 1985 heraus, eine der letzten, die er geschrieben hatte.
Als er sie laut vorlas, konnte er nicht anders, als seine eigenen Worte ein wenig zu bewundern. Er war ein talentierter Schreiber, das ließ sich nicht leugnen. Und dann, auf einmal, wurde er wütend.
„Das bist du einmal gewesen”, sagte er mit harter, unversöhnlicher Stimme. „Wohin bist du verschwunden?”
Vor dreißig Jahren war Kevin ein vielversprechender Psychologie-Student an der Universität von Chicago. Seine Dozent_innen überschütteten ihn mit Lob. An den Rändern seiner Arbeiten notierten sie: er sei der beste Student, den sie seit Jahren gesehen hatten, so talentiert, dass er fast außerhalb jeder Kritik stand. Sie sagten, er werde an der Graduiertenschule glänzen und könne einer Karriere in der Wissenschaft oder als Autor entgegensehen.
Das waren aufregende Sachen für einen jungen Mann aus einer Arbeiterfamilie. Schon der Bachelor-Abschluss war ihm wie eine immense Errungenschaft erschienen. Aber er hatte angefangen zu glauben, dass es möglich war.
„1987 ist mir mein Leben entglitten“
Dann wurde Kevin positiv auf HIV getestet. Mit 27 hatte er das Gefühl, zum Tode verurteilt zu sein.
Die Idee mit der Graduiertenschule verschwand. „Ich dachte, wozu sich damit herumplagen?”, sagte Kevin. Er nahm einen Job als Computer-Programmierer auf Einsteiger-Stufe an, damit er eine Krankenversicherung und ein festes Einkommen hatte, während er auf das Unvermeidbare wartete.
„1987 ist mir mein Leben entglitten”, sagte Kevin. „Seither ist es eine einzige Katastrophe gewesen.”
In einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit HIV/Aids traf Kevin Männer seines Alters, die offensichtlich zu sterben begonnen hatten. Sie erblindeten oder litten an Demenz, weil HIV ihr Gehirn angriff, oder konnten kaum noch laufen. Es war eher furchteinflößend denn hilfreich.
Jeden Tag erwartete er, dass es auch mit ihm zu Ende gehen würde. Er nahm experimentelle Medikamente, meldete sich zu klinischen Studien an und machte Schwarzmarkt-Clubs für in den USA noch nicht zugelassene Medikamente ausfindig. Schließlich bemerkte er bei sich ungewöhnliche neurologische Symptome – zitternde Hände und einen steifen, unbeholfenen Gang. Tests zeigten an, dass er möglicherweise eine Aids-bedingte Infektion in seinem Gehirn hatte.
Er hörte sofort zu arbeiten auf und folgte kurz darauf einem Freund nach San Francisco. Das war 1994. Seitdem hat er von Erwerbsunfähigkeitsrente gelebt.
Eine Gruppe im Abseits
Kevin ist jetzt 56, hat keinen Job und schreibt kaum noch. Er verbringt Stunden allein in seinem Apartment mit Blick über das Castro-Viertel. Manchmal ist er den ganzen Tag dort.
Hätte er geglaubt, es gäbe irgendeine Chance, Aids zu überleben, wäre er vielleicht in der Schule geblieben. Er hätte vielleicht für die Rente gespart oder ein Haus gekauft. „Stattdessen“, sagte er, „habe ich mich die ganze Zeit aufs Sterben vorbereitet”.
Jetzt ist Geld Kevins größte Sorge, nicht seine Gesundheit. In den fünf Jahren, in denen er arbeitete, zahlte er in eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung ein, die seine Miete, Essen und kleine Annehmlichkeiten abdeckt. Die Police läuft jedoch aus, wenn er 65 wird, wodurch seine Einnahmen fast halbiert werden. Würde er nur von Sozialhilfe leben (etwa 1.600 $ pro Monat), könnte er seine Miete nicht mehr bezahlen.
„Ich hätte zumindest versuchen sollen, ein solches Leben zu erreichen”
In vielerlei Hinsicht ist Kevins Situation besser als die der meisten anderen – derzeit hat er mehr Geld als andere Langzeitüberlebende, die seit Jahrzehnten mit Sozialhilfe zurechtkommen müssen. Aber Menschen wie Kevin sind von der privaten Erwerbsunfähigkeitsrente abhängig und haben keine Möglichkeiten, die Differenz auszugleichen, wenn ihre Policen auslaufen.
Laut eines Berichts der Stadt San Francisco von 2014 haben schätzungsweise bis zu 1.200 Menschen mit HIV oder Aids eine private Erwerbsunfähigkeitsversicherung, die mit Eintritt ins Rentenalter abläuft. Damit sie in ihrer Wohnung bleiben oder eine neue finden können, müsste die Stadt in den kommenden fünf Jahren 19 Millionen Dollar an Mietzuschüssen aufbringen. Doch derzeit hat die Stadt keinen Plan zur Zuteilung dieser Gelder.
Im letzten Frühjahr fasste Kevin den Mut, vor einem Ausschuss des Stadtrates über seine Geldprobleme zu sprechen. Er bezweifelt aber, dass Hilfe kommen wird. Die Stadtverwaltung scheine zwar besorgt zu sein, sagt er, doch Leute wie er könnten leicht übersehen und vergessen werden.
„Es handelt sich um eine Gruppe im Abseits, die irgendwann verschwunden sein wird”, sagt er. „Dann ist Aids vorbei, und es ist keine große Sache.”
Er würde gern wieder arbeiten, aber seine Gesundheit steht ihm im Weg – er ermüdet leicht, und seine Angst ist oft so schlimm, dass ein Vollzeitjob unmöglich scheint. „Wie dem auch sei“, sagte er, „wer würde mich überhaupt anstellen?” Seine Computerkenntnisse sind veraltet, und er hat keine aktuellen Erfahrungen. Würde er arbeiten, verlöre er außerdem seine Erwerbsunfähigkeitsrente, ein Risiko, das er nicht eingehen will.
Er sagt, er fühle sich wie in einer Falle. Der Weg, auf dem er sich jetzt befindet, wurde vor Jahrzehnten angelegt, als er seine Ziele und jede Chance auf eine Karriere in einem Bereich, der ihm lag, aufgab.
„Ich hätte zumindest versuchen sollen, ein solches Leben zu erreichen – etwas zustande bringen, worauf ich stolz sein könnte”, sagt Kevin.
Zwischen den Arbeiten in der Schachtel unter seinem Bett befindet sich eine Rede, die Kevin auf seiner Abschlussfeier an der High School gehalten hatte. Jeder Mensch ist für sein eigenes Glück verantwortlich, für den Entschluss, nach Glück zu streben, schrieb er. Er wäre gerne dieser Mensch, sagt er. Aber er weiß nicht, wie.
Die letzten Überlebenden – Teil 1: „Ich bin der glücklichste unglückliche Mensch der Welt“
Die letzten Überlebenden – Teil 3: „Wir waren aufrechte Säulen inmitten der Trümmer“
Die letzten Überlebenden – Teil 4: „Ich habe so vieles in meinem Leben gehabt, aber eines vermisse ich“
Die letzten Überlebenden – Teil 5: „Du musst dich dafür entscheiden, glücklich und dankbar zu sein“
Die letzten Überlebenden – Teil 6: „Du wirst okay sein, du wirst leben“
Die letzten Überlebenden – Teil 7: „Ihr tragt all die Erinnerungen, die ganze Geschichte mit euch“
Die letzten Überlebenden – Teil 8: „Ich will, dass die mir noch bleibende Zeit zählt“
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