Die Nachrichten aus den umkämpften Städten in der Ukraine beherrschen die Nachrichten. Wie erleben die Menschen in der HIV- und LGBTIQ*-Community diese Ausnahmesituation, fragten wir uns in der Redaktion von magazin.hiv, und haben daher zwei Menschen kontaktiert, mit denen die Deutsche Aidshilfe verbunden ist:

Inna, eine trans* Frau, musste das geplante Interview leider wieder absagen. Inzwischen war auch ihr Zufluchtsort in der Westukraine unsicher geworden und die psychische Belastung zu hoch.

Umso mehr freuen wir uns, dass Gennady Roshchupkin ein Gespräch ermöglichen konnte. Er lebt in Kyjiw und arbeitet dort seit vielen Jahren für HIV-Organisationen, unter anderem als Community Health Systems Advisor für ECOM, die Eurasian Coalition on Health, Rights, Gender and Sexual Diversity.

Das Gespräch fand am 12. März 2022 per Video-Call statt.

Gennady, du lebst seit über einem Jahrzehnt in Kyjiw und hast einen russischen Pass. Hat sich dadurch seit dem russischen Angriff das Leben für dich in der Ukraine zusätzlich verändert?

Ich vereine in der Tat nun beide Seiten des Krieges: Ich bin ein Einwohner von Kyjiw und russischer Staatsbürger. Meine Nachbar*innen und viele andere Menschen wissen, dass ich zum russischen Bevölkerungsteil in Kyjiw gehöre, das war nie ein Problem. Auch nach Beginn des Krieges habe ich weder unhöfliches noch unfreundliches Verhalten erlebt. Einmal wurde ich auf der Straße von einem Polizisten nach meinen Ausweispapiern gefragt. Er hat sie sich angeschaut, aber sonst nichts weiter gesagt. Ich bin hier in Kyjiw ja ganz ordnungsgemäß angemeldet.

Mein Bewegungsradius ist seit Kriegsbeginn jedoch sehr eingeschränkt. Das liegt aber vor allem daran, dass der öffentliche Nahverkehr weitgehend zusammengebrochen ist. Ich bleibe meist zu Hause oder entferne mich zumindest nicht weit davon. Gemeinsam mit einem befreundeten Paar versuche ich so gut wie möglich durch diese Zeit zu kommen.

Kannst du dich problemlos mit Nahrungsmitteln versorgen und funktionieren die Kommunikationswege?

Kyjiw ist bislang relativ sicher. Die Kämpfe finden in den kleineren Städten im Umkreis statt. Ich kann zwar die Einschläge und Explosionen hören, aber sie sind noch weit entfernt. Wir haben hier zum Glück eine ganz andere Situation als etwa in Charkiw. Dort leben Freunde von mir und sie haben weder Strom, Wasser noch Gas und können deshalb weder kochen noch heizen. Sie möchten gerne weg von dort, aber das ist derzeit nicht mehr möglich. Sie haben den entscheidenden Zeitpunkt leider verpasst.

Ich möchte nicht anderswo noch einmal von ganz vorne beginnen müssen

Viele Freunde von mir in den Städten rund um Kiew haben ihre Häuser und Wohnungen verlassen müssen – aus dem einfachen Grund, weil diese zerstört sind. Ich kann mich also als glücklichen Mann bezeichnen. Ich habe Gas, Wasser, Strom und Internet und ich kann im Laden Lebensmittel kaufen.

Spielst du mit dem Gedanken, das Land zu verlassen und Schutz im Ausland zu suchen?

Für mich wäre dies relativ einfach, da ich russischer Staatsbürger bin. Von ukrainischer Seite würde mich niemand aufhalten und ich würde sicherlich nach Ungarn oder Polen einreisen dürfen. Freund*innen in Deutschland, Polen und in den Niederlanden haben mir auch bereits angeboten, mich bei sich aufzunehmen.

Aber ich habe mich entschieden, hierzubleiben. Ich bin 53 Jahre alt und ich bin mir bewusst, dass dies mein letzter Lebensabschnitt ist. Ich möchte nicht anderswo noch einmal von ganz vorne beginnen müssen, und hier leben meine Freund*innen und auch einige Familienangehörige.

Welche Auswirkungen hat die Lage auf deine Arbeit?

An Arbeiten ist derzeit überhaupt nicht zu denken. Mir fällt es schwer, mich zu konzentrieren. Ich bekomme den Kopf nicht frei; dafür ist die derzeitige Situation einfach zu belastend.

Wie ist die medizinische Lage in der Ukraine, insbesondere für Menschen mit HIV? Wie lange, denkst du, reichen die Medikamentenvorräte aus?

Mir wurde gesagt, dass es in Kyjiw ausreichend Medikamente gibt. Ich bin auch in engem Kontakt mit „100% Life“, dem ukrainischen Netzwerk für Menschen mit HIV. Sie können, wenn es zu Engpässen kommt, mit Medikamenten aushelfen. Ich vertraue ihnen, dass sie offen kommunizieren würden, wenn die Vorräte zu Neige gehen. In einem solchen Fall werden sie dann auch um internationale Hilfe bitten.

Auch Alex Schneider, der Gründer der Organisation Life4me+, hat seine Hilfe angeboten. Menschen in der Ukraine, die Schwierigkeiten haben, an Medikamente zu kommen, können sich direkt an ihn wenden. Ich persönlich habe einen Zwei-Monats-Vorrat und bin deshalb nicht beunruhigt.

Wie aber sieht es in anderen Städten aus?

Ich weiß durch einen engen Freund lediglich über die Situation in Charkiw Bescheid. Dort ist das Aids-Center weiterhin in Betrieb, allerdings ist es nur noch sehr eingeschränkt geöffnet.

Und wie ist die Situation von Substituierten?

Das könnte ein wirklich großes Problem werden. In der ersten Kriegswoche war Methadon noch verfügbar. Wie es aktuell aussieht, weiß ich leider nicht. Aber für Substitutionspatient*innen ist es wesentlich schwieriger, ihre Behandlung fortsetzen zu können.

Wie gut funktioniert die Vernetzung innerhalb der HIV- und der LGBTIQ*-Community noch?

Die Regierung hat landesweit die Internetverbindungen gesichert, denn dies ist der Hauptkanal, um die Bevölkerung zu informieren. Daher kann ich auch den Kontakt etwa zu meinen Freund*innen in anderen Städten halten.

© Gennady Roshchupkin / ECOM

Du bist beruflich sehr eng mit Organisationen in Belarus und Russland verbunden. Kannst du etwas dazu sagen, wie es um die Communitys dort bestellt ist? Welche Auswirkungen haben der Krieg oder die verhängten Sanktionen auf sie?

Aus Belarus habe ich leider keine aktuellen Informationen. Es ist derzeit schwer, mit den Menschen dort zu kommunizieren. Zum einen aufgrund der schlechten Internetverbindungen in Belarus, aber auch aufgrund der Angst, die dort herrscht. Die Menschen wissen, dass jeglicher Kontakt ins Ausland vom Geheimdienst überwacht wird.

Ich stehe aber in regelmäßigem Austausch mit Freund*innen und Kolleg*innen in Russland, und dort herrscht schlicht Panik. Viele, die es sich leisten können, haben das Land verlassen und sich in nahe gelegenen Ländern wie Kasachstan, Armenien, Georgien und Moldawien eine Wohnung gesucht. Aber das betrifft nur einen verschwindend kleinen Teil der LGBTIQ*-Community.

Ein nicht unwesentlicher Teil der russischen LGBTIQ*-Community unterstützt Putin

Die Mehrheit der Aktivist*innen, die ich kenne, befindet sich in einer Art Schockstarre. Keiner weiß so recht, was er tun soll. Denn Restriktionen gibt es nicht nur durch die westlichen Länder, sondern auch von der russischen Regierung, und die beeinflusst das tägliche Leben sicherlich mehr als die Sanktionen. Die Menschen in Russland stehen nun unter doppelten Druck. Der Rubel hat rasant an Wert verloren, die Preise steigen. In wenigen Wochen schon werden sehr viele Menschen richtig arm sein.

Ich glaube aber nicht, dass die Regierung den Druck auf die LGBTIQ*-Community erhöhen wird. Entscheidungen wie das Verbot von Facebook und Instagram betreffen die gesamte Gesellschaft. Aber es sind nur wenige, die wirklich den Mut aufbringen, öffentlich zu protestieren. Und man darf auch nicht vergessen, dass ein nicht unwesentlicher Teil der LGBTIQ*-Community Putin unterstützt.

Patriarch Kyrill I., das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, hat die „Militäroperation“ unter anderem damit legitimiert, dass die Gläubigen in der Region Donbass vor offen ausgelebter Homosexualität und „Gay-Pride-Paraden“ beschützt werden müssten.

Was hätte er auch sonst sagen sollen? Als Oberhaupt einer christlichen Kirche müsste er den Krieg verdammen, erst recht, wenn ein christliches Land ein anderes christliches Land überfällt. Er müsste eigentlich in der ersten Reihe stehen, um gegen diesen Krieg zu protestieren. Diese Argumentation ist für ihn der einzige Weg, um zu erklären, warum er nicht gegen diesen Krieg ist. Und dabei wimmelt es in der Russisch-Orthodoxen Kirche nur so von schwulen Männern!

Welchen Effekt wird diese homophobe Haltung auf die Gesellschaft haben, wenn gar ein Krieg angezettelt werden muss, um die Gesellschaft vor dem angeblichen Laster der Homosexualität zu schützen?

Die Menschen erwarten von der Kirche Unterstützung, jetzt aber lehnt sie diese rundheraus ab. Sie protestiert weder gegen den Krieg, noch unterstützt sie ukrainische Geflüchtete, die in der Russischen Föderation Schutz vor dem Krieg suchen. Ich bin mir sehr sicher, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche dramatisch an Bedeutung in der Gesellschaft verlieren wird. Sie konnte ihre Macht zuletzt nur durch den massiven Einfluss der Regierung absichern. Und ich glaube auch nicht, dass jemand diesem Aufruf zum Kampf gegen die „ekelhaften Homosexuellen“ folgen wird.

Welche Form der Unterstützung benötigt die ukrainische HIV- und LGBTIQ*-Community derzeit – und wer kann diese Hilfe bieten?

Die wertvollste Unterstützung in einem Krieg sind Raketen, Panzer und anderes Gerät, das uns hilft, uns zu verteidigen und uns zu schützen. Das ist die effektivste Hilfe, um unser Überleben zu sichern. Zum anderen ist es wichtig, dass die NATO und andere Länder den Luftraum für russische Flugzeuge schließen. Denn nur so kann das Bombardement ukrainischer Städte gestoppt werden. Diese Maßnahmen schützen alle Menschen, nicht nur die LGBTIQ*-Community.

Ein großer Teil der LGBTIQ*-Community will hierbleiben

Zum anderen: Es gibt Menschen aus der Community, die das Land verlassen möchten, und für sie sollte es sichere Orte begeben.

Auf der anderen Seite gibt es einen großen Teil, der hierbleiben will, um im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten das Land zu verteidigen. Die Trans*-Community in Kyjiw etwa hat eine nicht unerhebliche Summe für das Militär gesammelt. Manche haben all ihr Erspartes gespendet, dabei leben viele trans* Menschen in eher ärmlichen Verhältnissen. Und viele schwule Männer sind jetzt in der Armee und sehen es als ihre Pflicht, wie alle anderen zu kämpfen und das Land zu verteidigen.

Das wird spätestens mit dem Ende des Krieges zu Konflikten führen. Wir müssen dennoch alles daransetzen, dass die gerade erst entwickelte Einheit der Community dadurch nicht zerstört wird. Wenn es also eine Möglichkeit gibt, diese Auseinandersetzung, die sich jetzt bereits abzeichnet, von außen zu moderieren, wäre das ganz sicherlich hilfreich.

Abgesehen von militärischer Unterstützung: Welche konkrete Hilfe können Einzelpersonen oder Organisationen leisten?

Es wurde erfreulicherweise sehr schnell ein gutes Community-Netzwerk aufgebaut, das LGBTIQ*, Menschen mit HIV und Drogengebraucher*innen unterstützt. Die Deutsche Aidshilfe war daran ja maßgeblich beteiligt. Durch diese breite Vernetzung der Organisationen der verschiedenen Länder gibt es nun genaue Informationen darüber, wo was gebraucht wird. Damit können die Gesundheitsdienste ihre Arbeit aufrechterhalten.

Das ist umso wichtiger, da viele öffentliche Einrichtungen bereits zerstört sind. Deshalb sind Community-Einrichtungen wie jene von 100% Life inzwischen Anlaufstellen für die gesamte Bevölkerung geworden. Auch sind viele Menschen innerhalb des Landes vor den Angriffen geflohen und müssen nun in anderen Städten, etwa in Lwiw, versorgt werden. Auch das ist eine wichtige Aufgabe.

Es dürfte dort zum Beispiel möglich sein, eine*n Psycholog*in zu finden, um mit ihm*ihr über kriegsbedingte psychische Probleme zu sprechen, etwa über die quälende Angst um den Lebenspartner, der im Krieg ist. Wenn aber ein schwuler Mann sich um das Leben seines Partners sorgt, der als Soldat kämpft oder vielleicht bereits gefallen ist – ich bezweifle, dass er mit diesem Problem bei allen Psycholog*innen gleichermaßen Gehör und Hilfe findet.

Wir könnten zwar sagen, dass im Krieg alle Menschen die gleichen Bedürfnisse haben, das stimmt allerdings nicht. Schwule, Lesben und trans* Personen bleiben Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Deshalb müssen die Community-Organisationen mit ihren Angeboten aufrechterhalten und von der Regierung muss ihre Bedeutung als Teil des Widerstands der ukrainischen Bevölkerung gegen die russische Armee anerkannt werden.

Was erhoffst du dir für die nächsten Tage und Wochen?

Die vielfältige Unterstützung der westlichen Welt, die wir gerade in der in der Ukraine erfahren, gibt den Menschen Kraft, um nicht aufzugeben, sondern weiterzukämpfen. Sie fühlen, dass sie nicht allein sind und nicht allein gelassen werden. Ich hoffe deshalb, dass diese Unterstützung nicht nachlässt.

Mein Traum ist, dass ich bald wieder auf der Chreschtschatyk spazieren gehen kann. Die Bäume entlang dieser Hauptstraße sind mit ukrainischen Flaggen geschmückt, die Mensch flanieren auf dem Boulevard, essen Eis und genießen die Sonne – in Frieden.

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„Die HIV-Diagnose kam überraschend, aber ich war erleichtert“

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„Wenn es hart auf hart kommt, sind all die großen Organisationen nutzlos“

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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