Das war unser 2023: Jubiläen, Rückschläge und Solidarität
Welche Ereignisse und Debatten haben uns im zurückliegenden Jahr bewegt? Was waren die herausragenden Nachrichten? Ein Rückblick der magazin.hiv-Redaktion auf das Jahr 2023
Januar
Schwierige Suche nach einem HIV-Impfstoff: Die HIV-Impfstoff-Forschung erleidet 2023 herbe Rückschläge. Im Januar wird die Phase-3-Studie Mosaico zu einem von den Pharmaunternehmen Johnson & Johnson und Janssen gemeinsam entwickelten Impfstoff wegen Unwirksamkeit abgebrochen.
Zum Jahresende scheitert auch der Impfstoffkandidat der Initiative PrEPVacc an der Wirksamkeitsstudie.
Die Forschung setzt nun auf die mRNA-Technologie. Erste Impfstoffkandidaten auf mRNA-Basis werden in Phase-1-Studien in den USA, Ruanda und Südafrika erprobt. Dennoch ist unwahrscheinlich, dass noch in diesem Jahrzehnt eine Impfung gegen HIV auf den Markt kommt.
März
Aidshilfen gegen Rassismus: Zu den Internationalen Wochen gegen Rassismus, die jedes Jahr rund um den 21. März – den Internationalen Tag gegen Rassismus – stattfinden, startet die Deutsche Aidshilfe ihre Kampagne „Aidshilfen gegen Rassismus“. Mit Plakaten, Veranstaltungen und in den sozialen Medien zeigt sie sich solidarisch mit Menschen, die Rassismus erfahren, klärt auf und unterstützt die Auseinandersetzung mit Rassismus im Aidshilfe-Verband.
Für Schwarze Menschen und People of Color sind Rassismuserfahrungen trauriger Alltag in Deutschland. Im Gesundheitswesen trifft rassistische Diskriminierung sie in einem besonders sensiblen Bereich.
Auf dem Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress (DÖAK) 2023 in Bonn präsentiert die DAH Fakten zum Thema und fordert Sensibilisierung, konkrete Gegenmaßnahmen sowie Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Menschen – ganz gleich welcher Hautfarbe oder Herkunft.
Im Oktober 2023 verabschiedet die Mitgliederversammlung der DAH schließlich das wegweisende Positionspapier „Aidshilfen gegen Rassismus“, mit dem sich die 115 Mitgliedsorganisationen verpflichten, Antirassismusarbeit in ihrer ganzen Breite und auf allen Ebenen zu installieren und zu fördern, beispielsweise mithilfe von Fortbildungen, Awareness-Trainings und Veranstaltungen zum Thema Rassismus.
April
Allyship-Kampagne „Ich bin dran!“: „Wir alle können Verbündete sein und zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft beitragen.“ Mit diesen Worten fasst Winfried Holz, Vorstandsmitglied der Deutschen Aidshilfe (DAH), die Message der DAH-Kampagne „Ich bin dran! – Allyship ist mehr als Solidarität!“ zusammen.
Sie wirbt dafür, sich gegen Diskriminierung und Stigmatisierung im Kontext von HIV zu positionieren. Die Kampagne präsentiert acht Menschen, die bereits als „Allys“ – also Verbündete – in verschiedenen Lebensbereichen vorangehen.
Mai
Forschungsprojekt zu sexueller Gesundheit und HIV/STI in trans und nicht-binären Communitys: Zweieinhalb Jahre lang haben die Deutsche Aidshilfe und das Robert-Koch-Institut (RKI) gemeinsam zu den Bedarfen und Bedürfnissen von trans und nicht-binären Menschen in Bezug auf sexuelle Gesundheit geforscht. Erstmals liegen nun Daten und wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zur sexuellen Gesundheit dieser vielfältigen Gruppen in Deutschland vor.
Das RKI befragte dazu mehr als 3000 Personen mit einem Online-Fragebogen. Die DAH sprach in Workshops und Interviews mit 59 Personen ausführlich über ihre Erfahrungen. Die Studie wurde partizipativ durchgeführt: Die Zielgruppen waren in jede Phase des Forschungsprojektes eingebunden, die Forschenden gehörten teilweise selbst zu den erforschten Communitys.
Der Forschungsbericht und die dazu erschienene Broschüre decken nicht nur eklatante Missstände in der Versorgung auf, sie geben auch Empfehlungen, wie Lücken geschlossen, Diskriminierungen verhindert und die Angebote verbessert werden können.
Mai/Juni
„Anti-Homosexualitäts-Gesetz“ in Uganda: Ende Mai tritt in Uganda eines der queerfeindlichsten Gesetze der Welt in Kraft. Es verbietet alle sexuellen Handlungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts und außerdem die „Förderung“ oder Anerkennung solcher Handlungen. Es drohen lange und lebenslange Freiheitsstrafen und bei „erschwerter Homosexualität“ sogar die Todesstrafe.
Schon seit der britischen Kolonialzeit steht Homosexualität in dem ostafrikanischen Land unter Strafe. Welche Auswirkungen das neue Gesetz für das Leben der Community hat, berichtet der Mitarbeiter einer ugandischen Nichtregierungsorganisation im Interview mit magazin.hiv.
Weltweit formiert sich Solidarität mit der LGBTIQ*-Community des Landes. In Deutschland startet ein breites Bündnis von über 40 Organisationen, darunter die Deutsche Aidshilfe, eine Spendenkampagne.
Die neu gegründete „Queere Nothilfe Uganda“ fordert von der Bundesregierung nicht nur politische Sanktionen, sondern in einem Offenen Brief auch ganz konkret humanitäre Visa für besonders gefährdete queere Menschenrechtsaktivist*innen aus Uganda.
Über 11.000 Menschen haben diese Petition mittlerweile unterzeichnet.
>> Zur Petition: https://action.allout.org/de/m/3b09f9cf/
>> Zur Spendenseite: https://www.queere-nothilfe.de/spenden/
Juni
Drugchecking endlich gestartet: In Berlin ist das lang geplante Drugchecking-Projekt an den Start gegangen. Konsument*innen können nun bei drei Einrichtungen ihre Substanzen auf Wirkstoffgehalt und Verunreinigungen testen lassen.
Diesem Beispiel aber müssen bundesweit weitere folgen. Eine wichtige Voraussetzung dafür schafft der Bundestag Ende Juni mit einer Änderung im Betäubungsmittelgesetz (BtMG), das den Ländern die rechtliche Grundlage liefert, Drugchecking-Modellprojekte in Verbindung mit Beratung durchzuführen. Zudem wird das bisherige Verbot von Drugchecking in Drogenkonsumräumen aufgehoben und mobiles Drugchecking, zum Beispiel in Clubs oder auf Festivals, ermöglicht. Nun müssen die Bundesländer entsprechende Rechtverordnungen erlassen.
Juli
Internationaler Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher*innen: 2022 war die Zahl der drogenbedingten Todesfälle erneut so hoch wie nie. 1.990 Menschen starben an den Folgen des Drogenkonsums unter den Bedingungen der Kriminalisierung – das sind 9 Prozent mehr als 2021 und über 100 Prozent mehr als 2012. Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Haft bei der Deutschen Aidshilfe, bezeichnet diese Entwicklung als „gesundheitspolitischen Skandal und eine Tragödie für die Betroffenen, ihre Familien und Freund*innen“. Denn viele dieser Fälle wären vermeidbar gewesen – durch eine Drogenpolitik, die auf Schadensminimierung, Entkriminalisierung und staatliche Regulierung setzt.
Der Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende stand 2023 daher unter dem Motto „Gedenken heißt Handeln!“. Rund 400 Einrichtungen der Aids- und Drogenhilfe, Selbsthilfeinitiativen und Angehörigenverbände, darunter die Deutsche Aidshilfe, haben rund um den 21. Juli Gedenkaktionen veranstaltet.
August
Kein Ende der Diskriminierung bei der Blutspende: Im März schien es, als könnte bald Schluss sein mit der Diskriminierung schwuler Männer bei der Blutspende. Das zumindest hat der Bundestag mit einer Änderungen des Transfusionsgesetzes beschlossen: Menschen, die Blut spenden wollen, dürfen in Zukunft nicht mehr aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität zurückgewiesen werden.
Doch die im August von der Bundesärztekammer und dem Paul-Ehrlich-Institut vorgelegten Änderungen machen alles nur noch schlimmer. „Die neuen Regeln sind weder wissenschaftlich evident noch beenden sie die Diskriminierung“, kritisiert DAH-Vorstandsmitglied Sven Warminsky. Ausgeschlossen werden sollen in Zukunft Menschen, die in den letzten vier Monaten Analverkehr mit neuen Partner*innen hatten. Die Bundesärztekammer hat es damit nicht nur geschafft, die meisten schwulen Männer weiterhin auszuschließen, ohne dies klar zu benennen, sondern sogar noch weitere potenzielle Spender*innen unnötig von der Blutspende abzuhalten: so etwa heterosexuelle Menschen, die Sex mit mehr als zwei Partner*innen in vier Monaten oder Analverkehr mit nur einer Person hatten – unabhängig vom realen HIV-Risiko. Die Deutsche Aidshilfe fordert zum wiederholten Mal einen interdisziplinären und partizipativen Prozess für die Blutspende-Neuregelung.
Charité feuert erfahrenen Pfleger – wegen HIV? Ein Skandal an der Berliner Charite macht deutlich, dass Menschen mit HIV selbst an einer der größten Universitätskliniken Europas nicht vor Diskriminierung gefeit sind.
Einem erfahrenen Intensivpfleger wurde im Rahmen eines Stellenwechsels innerhalb des Krankenhauskonzerns von der Betriebsärztin die Eignungsbescheinigung verweigert – und noch während der Probezeit gekündigt. Der Grund: Er lebt mit HIV und wollte der ungerechtfertigten Auflage, Befunde zu seiner HIV-Therapie vorzulegen, nicht nachkommen. Der entlassene Pfleger wehrte sich – erfolgreich.
Und auch vonseiten der Politik gibt es Gegenwind, wie etwa von der zuständigen Berliner Gesundheitssenatorin Dr. Ina Czyborra (SPD). „So etwas muss man natürlich abstellen, im Zweifelsfalle, indem man mit diesen Institutionen nochmal in die Debatte geht“, sagt sie im Interview mit magazin.hiv. Nicht zuletzt, weil auch die Charité als landeseigenes Unternehmen die Verpflichtungen einhalten muss, die Berlin mit der Unterzeichnung der Arbeitgeber*innendeklaration #PositivArbeiten“ eingegangen ist.
September
Community-Statement zur PrEP-Versorgung: Seit Einführung der PrEP als Leistung der Gesetzlichen Krankenkassen ist die Zahl der Menschen, die diese Form der HIV-Prophylaxe nutzen, sukzessive gestiegen. Doch eine vom RKI durchgeführte Evaluation sowie die Folgestudie „Surveillance der Versorgung mit der HIV-PrEP“ (PrEP-Surv) zeigen: Neben Männern, die Sex mit Männern haben, könnten noch weit mehr Personengruppen von der PrEP profitieren, z. B. Sexarbeiter*innen, Droegengebraucher*innen oder Menschen aus afrikanischen bzw. aus trans und nicht-binären Communitys. Der Community-Beirat im Projekt PrEP-Surv hat daher Empfehlungen vorgelegt, wie die PrEP-Versorgung erweitert und verbessert werden kann.
Oktober
40 Jahre Deutsche Aidshilfe: Die DAH feiert Geburtstag und kann nicht nur auf vier Jahrzehnte sehr erfolgreiche Arbeit zurückblicken, sondern auch enorm stolz darauf sein, was der Dachverband und seine inzwischen 115 Mitgliedsorganisationen aktuell leisten.
Beim Jubiläumsempfang in Berlin werden deshalb nicht nur die Anfänge, sondern auch die aktuellen Herausforderungen ins Zentrum gestellt – und jene Menschen, die sie vorbildhaft meistern. Zwei Organisationen werden mit dem Hans-Peter-Hausschild-Preis für ihre besonderen Verdienste um die Strukturelle Prävention geehrt: so die AIDS-Hilfe Emsland für ihr herausragendes Engagement für inhaftierte Menschen und ihr Konzept „Gesundheit in Haft“. Für den intensiven Einsatz für queere Menschen in der Ukraine zeichnet die DAH die Hilfsorganisation Munich Kyiv Queer aus. Peter Stuhlmüller bekommt die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Fast 35 Jahre lang hat er in verschiedenen Funktionen seine Arbeit der DAH gewidmet – zuletzt als Projektmanager und Geschäftsführer –, war Hauptansprechpartner für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und ein Fels in der Brandung für seine Kolleg*innen.
15 Jahre IWWIT: Auch die DAH-Präventionskampagne ICH WEISS WAS ICH TU feiert 2023 Jubiläum. Seit nunmehr 15 Jahren informiert IWWIT nicht nur über sexuell übertragbare Infektionen, die Kampagne hat sich auch zu einer gefragten und vertrauenswürdigen Anlaufstelle für alle Fragen rund um schwule* Gesundheit entwickelt. IWWIT steht für den offenen Austausch über Sex, HIV und schwules* Leben und dafür, die Communitys aktiv wie aktivistisch mitzugestalten.
November
Die Deutsche Aidshilfe verlässt die Plattform X: Hass und Hetze, Beleidigungen und diskriminierende Aussagen insbesondere durch Social-Media-Trolle beeinträchtigen zunehmend den Austausch auf den verschiedenen Online-Plattformen. Bei X (ehemals Twitter) haben seit der Übernahme durch Elon Musk Falsch- und Desinformation sowie queer- und transfeindliche, rassistische, antisemitische und misogyne Inhalte derart zugenommen, dass die DAH dort ihre Aktivitäten eingestellt hat und das Profil @Aidshilfe_de zum Jahreswechsel löschen wird. Aus gleichem Grund haben u. a. auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes und Organisationen wie der Lesbenring und der Bundesverband Trans* X verlassen. Die DAH baut stattdessen ihre Präsenz bei Bluesky aus.
Debatte um das „Nordische Modell“: Im Laufe des Jahres haben sich die Unionsfraktion und das EU-Parlament für ein „Sexkaufverbot“ nach dem sogenannten Nordischen Modell ausgesprochen. Es verbietet die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen und kommt damit einem Berufsverbot für alle Sexarbeiter*innen gleich. Bereits 2019 hat die DAH gemeinsam mit anderen Fachverbänden in einem Positionspapier dargelegt, dass durch das „Nordische Modell“ Sexarbeit keineswegs beendet, sondern vielmehr ins Verborgene verlagert würde. Das hätte fatale Folgen für die Sicherheit und Gesundheit von Sexarbeitenden.
Anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen am 25. November macht DAH-Referentin Nadja Zillken in einem Beitrag für magazin.hiv konkret deutlich, wie die angestrebte Kund*innenkriminalisierung Sexarbeiter*innen weiter stigmatisiert, sie ihrer Rechte beraubt und Gefahren aussetzt.
Zunehmend Drogennotfällen durch synthetische Opioide in Europa: Nach zahlreichen Notfällen u. a. in Großbritannien und Irland sowie vereinzelten Fentanyl-Funden in Deutschland ist deutlich: Auch in Europa werden Heroin synthetische Opioide beigemischt. Diese Beimengung von illegal hergestelltem Fentanyl können lebensgefährlich sein.
Umso wichtiger ist das von der Deutschen Aidshilfe geleitetet Bundesmodellprojekt „Rapid Fentanyl Tests in Drogenkonsumräumen“ (RAFT), das 2023 durchgeführt wurde. Seit März konnten Opiatgebraucher*innen in 17 Konsumräumen ihr Heroin auf Beimengung von Fentanyl testen lassen.
Selbstbestimmungsgesetz: Es soll das diskriminierende und größtenteils verfassungswidrige Transsexuellengesetz ablösen und muss ein entscheidender Fortschritt für trans, inter und nicht-binäre Personen werden. Doch viele Paragrafen im Entwurf der Regierungsfraktionen zu einem Selbstbestimmungsgesetz zementieren Benachteiligung und führen sogar zu weiterer Diskriminierung, u. a. durch unnötige Wartezeiten oder Ausschlüsse von Sportvereinen.
Die Deutsche Aidshilfe hat, wie viele andere Organisationen der Zivilgesellschaft, mit einer Stellungnahme versucht, Nachbesserungen zu erwirken.
Zusammen mit über 350 Vereinen und Fachverbänden, Frauenhäusern sowie Fachleuten hat sie zudem die Petition „Diskriminierung & Misstrauen raus aus dem Selbstbestimmungsgesetz!“ (innn.it/jazuselbstbestimmung) unterzeichnet und zur ersten Lesung im Bundestag mehr als 15.000 Unterschriften an die Regierungsfraktionen übergeben.
Dezember
Welt-Aidstag-Kampagne 2023: „Leben mit HIV. Anders als du denkst?“ ist der Titel der Gemeinschaftskampagne von DAH, Deutscher AIDS-Stiftung und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Zehn starke Persönlichkeiten mit HIV berichten in der Kampagne von ihrem Leben mit HIV und regen dazu an, Vorurteile über Bord zu werfen. Ihre Botschaft lautet: Diskriminierung muss sich niemand gefallen lassen.
Russland stuft LGBTIQ-Community als „extremistisch“ ein: Das Oberste Gericht Russlands hat damit de facto jeglichen Aktivismus für die Rechte von LGBTIQ verboten. Bereits einen Tag nach Einführung des Verbots hat die Polizei u. a. in St. Petersburg und Moskau Einrichtungen der Community mit Razzien überzogen.
Schon vor dieser weiteren drastischen Stufe der Kriminalisierung von queeren Menschen in Russland konnten Organisationen wie „Parni Plus“ ihre Hilfs- und Beratungsangebote für LGBTIQ* und Menschen mit HIV nur noch unter erschwerten Bedingungen anbieten.
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