Schwarz, arm und erst 16: Am 15. Mai 1969 stirbt Robert Rayford in St. Louis an einer schweren Lungenentzündung. Heute gilt er als erster bekannter Aidstoter in den USA. Wir erzählen seine Geschichte.

Robert Rayfords Geschichte ist eine Geschichte voller Fragezeichen, Versäumnisse und vor allem Lücken.

Es gibt kein einziges Foto von ihm. Selbst sein Geburtsdatum ist nicht eindeutig belegt.

Als der in einem ärmlichen afroamerikanischen Ghetto in St. Louis aufgewachsene Junge Anfang 1968 das City Hospital aufsucht, ist er 15 Jahre alt.

Eine Geschichte voller Fragezeichen, Versäumnisse und Lücken

Seine Beine und Genitalien sind mit Geschwüren und Warzen übersät, der Beckenbereich und die Hoden sind dick angeschwollen.

Robert ist abgemagert und bekommt nur schwer Luft. Bereits seit 1966 habe er mit diesen Symptomen zu kämpfen, erzählt er den behandelnden Ärzt_innen.

Diese vermuten zunächst eine Krebserkrankung. Bei der ersten Untersuchung wird Herpes diagnostiziert, außerdem eine Chlamydieninfektion, die sich aber – sehr ungewöhnlich – über den ganzen Körper hinweg ausgebreitet hat.

Eine Rektaluntersuchung lehnt Robert ab.

Ärzt_innen können das Krankheitsbild nicht erklären

Die Ärzt_innen sind hilflos. In den folgenden Monaten finden sie weder eine schlüssige Erklärung für das Krankheitsbild, noch wissen sie, wie sie Rays steten Gewichtsverlust aufhalten sollen.

Mittlerweile ist auch seine Lunge entzündet. Erst Ende 1968 scheint sich nach dem Einsatz von starken Antibiotika der Zustand zu stabilisieren.

Doch schon ein Vierteljahr später kehren die Symptome zurück. Die Atemnot ist schlimmer als zuvor, die Zahl der weißen Blutkörperchen ist massiv reduziert: Das Immunsystem ist zusammengebrochen.

Am 15. Mai 1969 um 23:20 Uhr stirbt Robert Rayford – laut Totenschein an den Folgen einer Lungenentzündung.

Ein gutes Jahr lang haben Ärzt_innen in drei verschiedenen Kliniken um das Leben des Jungen gekämpft, der längst zu einem Forschungsfall geworden ist.

Bei der Autopsie werden Kaposi-Sarkome festgestellt

Bei der Autopsie werden überraschend kleine, lilafarbene Läsionen in den Weichteilen festgestellt und als Kaposi-Sarkome, eine äußerst seltene Krebsart, diagnostiziert.

Auch diese Entdeckung kann man medizinisch nicht erklären.

Dr. Marlys Witte, eine der behandelnden Ärzt_innen, hebt die Blut- und Gewebeproben aber für spätere Untersuchungen auf.

Als 1984 der erste HIV-Test entwickelt ist, überprüfte sie eine ihrer Proben: ohne Befund.

1987 wird in Gewebeproben von Rayford HIV festgestellt

Erst als sie die Proben drei Jahre später mit dem neuen, weitaus sensibler reagierenden Western-Blot-Verfahren wiederholt, werden Antikörper gegen alle neun nachweisbaren HIV-Eiweiße diagnostiziert.

Spätere Untersuchungen zeigen, dass das Virus in Rayfords Blut nicht mit jenen HIV-Strängen in Verbindung steht, die zu Beginn der Aidskrise in den frühen 1980er-Jahren in New York analysiert worden sind, sondern mit einem seltenen frühen Strang, den Forschende in Paris identifiziert haben.

Robert Rayford starb an den Folgen von Aids

Robert Rayford ist wohl der erste bekannte Aidstote Nordamerikas – eine für die Geschichte der HIV-Epidemiologie bahnbrechende Entdeckung, die dennoch weitgehend unbekannt ist, selbst unter HIV/Aids-Aktivist_innen.

Als die Chicago Tribune im Oktober 1987 über den HIV-Nachweis bei Rayford berichtet, wird dies zwar auch von anderen Medien wahrgenommen. So besucht beispielsweise ein Reporters des US-Fernsehsenders ABC Rayfords Mutter und seinen zwei Jahre älteren Bruder George, und auch die Zeitschriften „People“, „Time“ und „Newsweek“ greifen die Geschichte auf.

Doch die Diskussion um die Herkunft und Ursache der HIV-Epidemie wird zu diesem Zeitpunkt bereits durch eine andere Erzählung dominiert.

Fast zeitgleich hat der Journalist Randy Shilts sein Buch „And the Band Played on“ zur Aidskrise veröffentlicht und den Frankokanadier Gaëtan Dugas als „Patient Zero“ präsentiert.

„Patient Zero“ Gaëtan Dugas dominiert den Aids-Ursprungsmythos

Der sexuell äußerst aktive Flugbegleiter soll auf seinen Reisen das Virus nicht nur in die US-Schwulenmetropolen, sondern auch in andere Länder getragen haben.

Für die Boulevardmedien ist diese Geschichte des schwulen Mannes mit ausschweifendem Sexleben wie geschaffen. „The Man Who Gave Us Aids“ titelt die „New York Post“ just in jener Woche, in der in den Gewebeproben von Rayford das HI-Virus gefunden wird.

Robert Rayfords Geschichte passt nicht ins Bild

Die amerikanische Gesundheitsbehörde CDC spricht zu dieser Zeit von vier besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen, den „vier H“: Homosexuelle, Heroinabhängige, Hämophile und Haitianer_innen. Die Black Community hat Zeit kaum jemand im Blick.

Schon als in der „New York Times“ 1981 unter der Überschrift „Rare Cancer Seen in 41 Homosexuals“ erstmals über die neue, mysteriöse Krankheitswelle berichtet wird, ist der Fokus auf (weiße) homosexuelle Männer gerichtet.

Dabei sind zu diesem Zeitpunkt bereits zwei weitere Fälle von erkrankten Männern in den USA bekannt: der eine Afroamerikaner und schwul, der andere Haitaner und heterosexuell.

Die Aids-Geschichte wird weiß geschrieben

Der Fall Robert Rayford ist allerdings ein klares Indiz dafür, dass HIV-Stämme schon in den 1960er-Jahren in den USA zirkulierten, wenn nicht früher.

Wie aber hat sich Robert Rayford mit dem Virus infiziert? Die behandelnden Ärzt_innen fragen den Jungen immer wieder nach seinen Lebensumständen.

Doch je mehr sich sein Zustand verschlechtert, desto verängstigter und verschlossener wird er. In einem Bericht wird Rayford deshalb gar als „geistig leicht zurückgeblieben“ bezeichnet.

Auch verändern sich seine Angaben. Sagt er zunächst, er habe erst einmal in seinem Leben Sex gehabt, und zwar mit einem Nachbarmädchen, revidiert er dies später: Er habe noch überhaupt keine sexuellen Erfahrungen gemacht.

Recht sicher scheint, dass Rayford – nicht zuletzt auch aufgrund seiner finanziell und sozial schwierigen Situation – die Heimatregion nie verlassen hat. Die großen Städte wie New York City, Los Angeles und San Francisco, in denen die HIV-Epidemie in den frühen 80er-Jahren erstmals offenbar wird, hat er wohl nie besucht. Auch eine Bluttransfusion hat er nie erhalten.

Wie hat Rayford sich infiziert?

Als Wissenschaftler_innen den Fall Anfang der 80er-Jahre untersuchen, spekulieren sie, Robert Rayford habe womöglich als Stricher gearbeitet oder sei sexuell missbraucht worden. Für sie ist dies ein naheliegender Gedanke, denn bei der Autopsie wurden Narben im Analbereich gefunden, die dazu passen könnten.

Auch Rayfords bis dahin unbekannten HIV-Strang weiß man zu erklären: Die homosexuelle Population in St. Louis sei zu klein gewesen, als dass dieser Strang hätte überleben können.

Robert Rayford ist ein wichtiger Teil der Aids-Geschichte

Rayford hat den Ärzt_innen erzählt, dass sein Großvater Percy dieselben Symptome gehabt habe. Er verstarb 1966 mit nur 55 Jahren, seine Frau nur wenige Monate danach.

Wurde das Virus womöglich in der Familie weitergegeben? Verfolgt wird diese Theorie nicht.

Robert Rayfords Bruder George stirbt 2007 im Alter von 56 Jahren, seine Mutter 80-jährig im Jahr 2011.

In Rayfords Geschichte spiegeln sich Homophobie und Rassismus

Für den Autor und Künstler Theodore Kerr ist die Geschichte von Robert Rayford ein Beispiel für die ignorante und letztlich rassistische Darstellung der Aids-Geschichte der USA.

Zwar sei durchaus richtig und wichtig zu betonen, dass es die US-Regierung unter Ronald Reagan zu lange versäumte, gegen die HIV-Epidemie anzugehen.

„Wahr ist aber auch, dass das Virus, das als HIV bekannt wurde, in anderen Gemeinschaften zirkulierte – in den Communitys von People of Color, unter Menschen, die Drogen konsumieren, und Menschen, die in Armut und ohne Unterkunft lebten –, lange bevor HIV bei Homosexuellen in New York, Los Angeles und San Francisco bemerkt wurde.“

Dieser Teil der Geschichte werde aber meist nicht erzählt, beklagt Theodore Kerr, der mit einem Kunstprojekt auf diese Leerstelle hinweisen möchte.

Die Geschichte von Aids in den USA hat schon lange vor 1981 begonnen. Robert Rayford ist ein wichtiger Teil von ihr.

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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